Ausschnitt von einem Arbeitstisch aus einer Schreibwerkstatt

Werkstatt-Texte

›Was für eine Katastrophe!‹ - mit Janine Lancker

Schreibworkshop für junge Bremer Autorinnen und Autoren (2014) bei Janine Lancker 

Einspurig

Zu Anfang hatte niemand sehen können, dass der Lastwagen noch einen zweiten Anhänger mit sich führte. Erst, als er um die Kurve kam, ausbrach, wohl wegen der feuchten Steine, riss der Fahrer das Lenkrad weiter nach rechts, um nicht von dem auf ihn zu schlitternden Wagen getroffen zu werden.  Dort rechts war nichts mehr und der Bus kippte, zu schnell, um es  begreifen zu können, und überschlug sich, immer und immer wieder. Irgendetwas Hartes prallte gegen ihre Schläfe.

Zuerst sah sie nur wirre Farben, doch die roten und grauen Splitter Lack, die den Boden übersäten, nahmen langsam Gestalt an. Rucksäcke häuften sich dazwischen, auf der rechten Seite, ihrer Seite, sie hing in der Schräge. Ihr Kopf war gegen die Seitenlehne des Sitzes gekippt und ihr linker Arm zwischen zwei Sitzlehnen eingeklemmt, sie spürte ihre Finger nicht. Marlene saß noch immer neben ihr, Blut sickerte aus ihrem Oberschenkel und ihre Augen waren geschlossen. Der dünne Streifen Metall, der die mittlere Eingangstür von der ersten Fensterscheibe des hinteren Busrumpfes trennte, war alles, was sie im Bus hielt, zwei Reihen weiter vorne war das Metall hart auf Holz gestoßen und hatte nicht standhalten können.

Als sie in den Bus gestiegen waren, hatte sich Marlene noch geärgert. „Wir sitzen nicht mal am Fenster. Mir wird bestimmt schlecht werden, wenn ich nicht rausgucken kann“. Im Laufe der Fahrt war sie dann doch froh gewesen. Von der Ebene hinauf ins bolivianische Hochland schlängelte sich die Straße in engen Kurven, einspurig und ohne Leitplanke. Die Sitze ruckten in den Kurven manchmal ein wenig zur Seite und durch das Plexiglasfenster der Bustür konnten sie sehen, dass neben den Rädern nichts anderes war als der Abgrund. Direkt neben der Straße ging es steil hinab ins Tal, erst einige Meter in der Tiefe wurde das Gelände etwas flacher und war mit Sträuchern und Bäumen bewachsen.

Sie versuchte, ihren Oberkörper leicht nach links zu drehen und drückte mit der Rechten gegen den Sitz, der ihren Arm gefangen hielt. Zentimeter um Zentimeter gelang es ihr, ihn hinter sich zu schieben, weg von sich, sich zu befreien. Als sie es endlich geschafft hatte, rutschte er kreischend über den Metallboden und blieb knapp vor der zersplitterten Fensterscheibe an einem Rucksack hängen. Sie war ihm mit dem Blick gefolgt, hatte sich nach rechts gewandt und erst in dem Moment, als der Sitz leicht nach hinten kippte und in dieser Position verharrte, sah sie, dass, auf dem Polster zusammengesackt, jemand saß. Sie starrte durch das Loch in der Scheibe in die Tiefe, auf den steilen Abhang, der nicht zu enden schien, dann auf das leere Gesicht der jungen Frau, deren Kopf zur Seite gekippt war. Das Gesicht war nur halb zu sehen, daneben sah sie die Splitter, die Stoffe, die Blätter der Äste, die durch die Fenster in den Innenraum des Busses ragten. Die Buswand war von den Baumstämmen an mehreren Stellen eingedellt, hinter ihr, vor ihr, und ganze Sitzreihen waren nicht mehr da, wohl einfach durch die zersplitternden Fensterscheiben weiter in den Abgrund gestürzt. Sie wandte sich wieder um, dachte einen Moment an die Andenken, fein säuberlich in Kleidungsstücke eingewickelt, unten im Gepäckraum, für ihre Familie – und daran, dass sie ihren Flug nicht erreichen würden. Wo hatte sie die Pflaster hingepackt? Marlene blutete immer noch. „Marlene“, sie berührte sie leicht an der Schulter, „Marlene, hörst du mich? Wir haben ein Problem.“, sagte sie und merkte, wie ihre Finger zu zittern begannen. „Marlene?“ Ihre Freundin reagierte nicht, hing nur blass und reglos im Sitz. Sie wollte Marlene schütteln, sie wieder quirlig und aufgedreht, wie sie immer war, durch die Berge springen sehen, während sie selbst sich keuchend die Hände in die Seiten stemmte und ihr hinterherrief: „Jetzt warte doch mal auf mich!“. Sie wollte von einem ihrer endlosen Redeschwälle überrollt werden, bei denen sie selbst gar nicht mehr zu Wort kam und über die sie sich manchmal wirklich ärgerte.  Sie atmete tief ein und aus, sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Erste-Hilfe-Kurs. Da hatte sie so etwas doch gelernt. Nie mit dem Daumen nach dem Puls suchen, immer mit den restlichen Fingern. Sie legte sie auf Marlenes Hals. Nach einigen Versuchen hatte sie die Halsschlagader ertastet und hielt den Atem an, um sich nur auf das erhoffte Pochen konzentrieren zu können. Erleichtert ließ sie die Hand sinken, nachdem sie das zwar schwache, aber doch schnelle, rhythmische Strömen des Blutes an ihren Fingerspitzen gefühlt hatte. Nun begann sie, die Schmerzen zu spüren, die in ihrer eigenen Schläfe vibrierten. Sie strich mit der Hand über ihre Kopfhaut und fühlte schon jetzt eine Beule anschwellen. Sie lehnte ihren Kopf an Marlenes Schulter, kniff für einen Moment die Augen zusammen und richtete sie dann wieder auf die verstreuten Gepäckstücke. Etwas weiter vorne entdeckte sie Marlenes Rucksack, an dem noch die kleine, braune Mütze hing, die Diego ihnen zum Abschied geschenkt hatte. Eigentlich Marlene geschenkt hatte.

Nur ein paar Tage wollten sie zusammen reisen und dann waren es Wochen geworden. Diego und Marlene, immer wieder Diego und Marlene, lachend und völlig in sich verloren. Ein tränenreicher Abschied. Das war nur ein paar Tage her. Das war vor wenigen Tagen gewesen, dass er in einen Bus gestiegen war, Richtung Süden. Und sie noch gewinkt hatten und Marlenes Tränen, nachdem der Bus um die Ecke gebogen war und sie an diesem Abend beide viel zu viel getrunken hatten. Und irgendwann dann doch lachen mussten, aus den Hängematten gekugelt waren und sich lachend an den Händen gehalten hatten, betrunken und ein bisschen selig und brauselig im Kopf. Und vorgestern, als sie aufgewacht waren und alles wieder eigentlich ganz in Ordnung war, weil Marlene nicht mehr um Diego trauern musste und sie sich beide auf Zuhause freuten. Nach all den Monaten doch mal wieder deutschen Boden betreten und alle wiedersehen.

Von einem Geräusch schreckte sie hoch. Ein Rauschen und Knacken drang durch den Bus, den bis eben außer dem Wispern der Blätter kein Geräusch erfüllt hatte. Irritiert sah sie um sich, doch auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Nun nahm sie auch die weiteren Personen um sich herum wahr, die reglos auf den noch im Bus befindlichen Sitzplätzen hingen. Ob sie noch lebten? Sie wollte es gar nicht wissen, lieber dem Knacken nachgehen, das inzwischen von Wortfetzen durchbrochen schien. Es kam definitiv aus dem vorderen Teil des Fahrzeugs. Sie musste dort hinkommen, fuhr es ihr durch den Kopf, als ihr bewusst wurde, woran sie die Geräusche erinnerten – ein Funkgerät? Vorsichtig löste sie den Gurt und blickte sich nach etwas um, nach dem sie greifen konnte, um an der Öffnung vorbei zu kommen, an der sich vor dem Aufprall noch die Tür befunden hatte. Sie fand an der Verankerung der gegenüberliegenden Sitzreihe Halt, krallte sich mit beiden Händen an den Metallstreben fest und rutschte mit den Füßen an den Treppenstufen vorbei. Damit war das gefährlichste Stück geschafft, denn die vordere Tür war intakt geblieben und bot vermutlich noch Halt. Sie schob sich zu der Stelle, an der der Stamm eines Baumes seine eigene Form in den Busrumpf gedrückt hatte, richtete sich dort ein wenig auf und schnaufte. In ihrem Arm und ihrem Kopf pumpte das Blut stärker und sie musste ein erneutes Zittern unterdrücken, als sie Blutflecken neben der vor ihr liegenden Reihe entdeckte. Nicht hinsehen, nicht hinsehen. Sie sank wieder auf die Knie und kroch weiter den Gang entlang, möglichst nah am Boden, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in Richtung der Fenster zu stolpern. Und um nicht zu sehen, was mit den anderen Passagieren um sie herum geschehen, was der Aufprall des Busses mit ihnen angerichtet hatte. Reihe um Reihe, von Metallstrebe zu Metallstrebe tastete sie sich vor, manchmal nur an ein Gepäckstück geklammert, wo die Sitze bereits hinausgestürzt waren. Das Rauschen und Knacken wurde lauter und sie glaubte auch, nun ganze Worte dazwischen zu hören, die sie allerdings nicht verstand. Als sie an die vordere Eingangstür kam, hatte sie freien Blick auf die Fahrerkabine. Sie war leer, der Sitz des Fahrers musste bei dem Sturz, wie viele weitere, das Seitenfenster durchschlagen haben und dann in der Tiefe verschwunden sein. Irgendwo hier musste aber auch die Stimme herkommen. Sie tastete durch die Kabine und entdeckte rechts neben dem Lenkrad einen kleinen schwarzen Kasten, der durch ein Kabel mit einer Sprechmuschel verbunden war. Aufgeregt inspizierte sie die Tasten, drückte auf einige und rief „Hola? Holaa?“ in die Sprechmuschel. Endlich bekam sie eine Antwort. „Hola. Quién habla?“ Durch das Rauschen fiel es ihr schwer, die spanischen Worte in ihrem Kopf zu ordnen und nur stockend brachte sie den Satz „Caímos de la ruta“ hervor. Die folgenden Worte aus dem Lautsprecher waren von so lauten Knackgeräuschen begleitet, dass sie nur zwei Ortsnamen zu verstehen glaubte – Beginn und Ziel ihrer Fahrt. „Si, si, esa ruta!“, rief sie, „necesitamos ayuda!“ Wir brauchen Hilfe. Sie sank Richtung Boden, “necesitamos ayuda”. Sie rutschte ein Stück in Richtung des Fensters und kam mit ihren Füßen an der Buswand auf. Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, unaufhaltsam und stark, und sie spürte, wie das Rauschen zusammen mit den Bildern vor ihren Augen zwischen Tränen und Dröhnen im Kopf zu verschwimmen begann.