Annegret Achner: ›Beifang‹

»Da hängt was Großes drin«, sagt Enno plötzlich. Knudsen fällt die kalte Pfeife aus dem Mund.
»Sieht aus wie ein großer Fisch?«, sagt Jan. Enno dreht an der Winsch, um das Netz weiter hochzuziehen. »Schiet, das sieht komisch aus. Ganz verwest«, sagt er und kneift die Augen zusammen. »Wahrscheinlich ein Schweinswal. Von Robben angeknabbert.«
»Glaub ich nicht«, knurrt der alte Fischer, stemmt sich nach hinten, um das Netz aufs Deck zu ziehen.
»Los, glotzt nicht! Fasst zu!«
Im Netz hängt kein Fisch. Es ist ein Mensch. Ein toter Mann. Angefressen von Fischen oder Robben. Jan wankt zur Reling, würgt.
»Nicht gegen den Wind«, schreit Enno. »Zur Lee-Seite, du Dösbaddel!« Aber auch er ist grün im Gesicht.
Mit schnellen Schritten ist Knudsen am Seefunkgerät im Niedergang. Er nimmt das Funkgerät und wählt Kanal 16.
»Bremerhaven Weser Traffic! Bremerhaven Weser Traffic! Bitte melden!«
Ein knackendes Geräusch. Eine tiefe Männerstimme.
»Bremerhaven Weser Traffic! Bremerhaven Weser Traffic! Any Problems?«
»Hier Fischkutter Marietta! Kutter Marietta!«
»Was ist los Knudsen? Hier ist Hinnerk. Wechsel auf Kanal 22«, schnarrt die Stimme.
»Ok, bin auf Kanal 22. Hinnerk, wir haben ein Problem.«
»Warte, ich habe euch auf dem Bildschirm. Doch wohl nicht Mann über Bord?«
»Eher das Gegenteil. Leiche an Bord.«
»Du machst Witze. Doch nicht euer Greenhorn?«
»Um Gottes willen! Nee, nee, eine Leiche. Ein Mann. Mit dem Netz aus dem Wasser gezogen. Könnt ihr ein Boot schicken? Küstenwache oder Wasserpolizei. Egal, wer in der Nähe ist.«
»Eure Koordinaten?«
Knudsen guckt auf das GPS: »53° 48‘ 30‘‘ N und 7°55‘10‘‘ E.«
»Haltet die Position. Notiert alle Daten: Uhrzeit, Koordinaten eurer Position, Wetterdaten und Strömung. Und fasst nichts an. Im Moment liegt ein Boot der Wasserschutzpolizei Wilhelmshaven in Wangerooge. Ich versuche, die rauszuschicken!«

Begründung der Jury

In ihrem Romanprojekt Beifang widmet sich Annegret Achner dem hochaktuellen Thema Überfischung. Vor diesem Hintergrund entwickelt sie eine außerordentlich spannend beginnende Kriminalgeschichte, die auch stilistisch in ihrer Erzählweise überzeugt. Der alte Fischer Knudsen, sein Neffe Enno und der Biologiestudent Jan, der ein Praktikum auf Knudsens Kutter absolviert, ziehen bei einem nächtlichen Fischfang auf der Nordsee eine Leiche an Bord, die sich im Netz verhakt hat. Dieser „Fang“ ist der Ausgangspunkt für einen politischen Krimi über illegale Fischerei, die Machenschaften der Fischmafia und das gravierende Umweltproblem Überfischung. Der Text basiert dabei auf einer offenbar äußerst gründlichen Recherche, denn die Autorin scheint sowohl mit dem politischen Thema vertraut zu sein, als auch mit dem Milieu ihrer Figuren, das sehr  authentisch wirkt, nicht zuletzt durch das rhythmische sprachliche Lokalkolorit. Zudem gelingt es der Autorin nicht nur, geschickt Spannung aufzubauen, sondern auch im Prolog ihren kindlichen, später jugendlichen Protagonisten Jan sehr glaubhaft darzustellen.

Zur Jury 2019 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), PD Dr. Karen Struve (Universität Kiel & Vorstand Bremer Literaturkontor), Alexandra Rempe (Geschäftsführerin Buchhandlung Storm), PD Dr. Ian Watson (freier Autor & Vorstand virt. Literaturhaus) und Helge Hommers (Journalist & Stipendiat 2018).

Bild von Annegret Achner
© privat

Annegret Achner (*1947) hat nach einem Studium der Anglistik und Germanistik in Bochum, Tübingen und St. Andrews über 30 Jahre im Bremer Schuldienst gearbeitet. Zurzeit unterrichtet sie als Dozentin für Englisch an der VHS Bremen-Nord. Seit der Pensionierung und nach der mühevollen Korrektur von unzähligen Deutschaufsätzen fing sie selbst an zu schreiben und bildete sich in Schreibworkshops fort. Einige ihrer Erzählungen und Kurzkrimis gewannen Preise bei Schreibwettbewerben und erschienen in Anthologien – zuletzt im Krimiband „Ostfriesisch kriminelle Weihnacht“ (Wellhöfer Verlag, 2019). Annegret Achner ist aktive Teilnehmerin beim Literaturfest „Gastgeber Sprache“ in Bremen-Nord und sie betreibt einen eigenen Blog, in dem sie regelmäßig Kurzgeschichten veröffentlicht (anne-achner.de).