Philipp Böhm: ›Elektrisches Pferd am Himmel über Berlin‹

Zunächst war da ein Brummen in der Luft, ein Brummen so tief, dass es in den Eingeweiden spürbar war, womit primär der Magen gemeint war und vermutlich auch der Darm, der nun schwang, in Schwingung gesetzt. Zunächst war da ein Brummen, es war zuerst da und dann kam erst der Schatten, der nicht recht zu lokalisieren war, es musste hinter den Wolken sein, aber können wir überhaupt Dinge sehen, die hinter den Wolken fliegen? Beantwortet wurde der Klang zuerst von den Hunden und die drei weißen Möpse mit schwarzen mittelgroßen Flecken, die von der älteren Dame in der hellblauen Windjacke geführt wurden, deren offen präsentierte Arschlöcher keine drei Meter vor uns bisher meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, setzten zu heulen an, schickten langgezogene Klagelaute dem Himmel entgegen, wo sich der große Schatten bewegte, den wir nicht recht finden konnten. Wir wussten nur: Er war da. Etwas flog da oben über dem Majakowskiring, über Berlin. Es war ein Herbsttag, der dem Ende entgegen schritt, so wie das Jahr unerbittlich gen Weihnachten ging. Majakowskiring, Berlin, Bäume ohne Blätter, tropfend vom letzten Regenfall, der noch nicht so lange zurück lag. Wir standen dort auf dem Trottoir zu dritt und vor uns heulten die Möpse, missachteten die ältere Dame, die an den Leinen riss, um sie zum Weitergehen zu ermuntern, das Gesicht gerötet, peinlich berührt. Doch auch sie konnte den Klang hören und warf ängstliche Blicke in den Himmel, den Wolken entgegen. Wir wussten nicht recht, ob wir stehenbleiben oder weitergehen sollten, wussten auch nicht, ob wir bereits an Lotte Ulbrichts Haus vorbei waren. Keiner von uns kannte sich aus in Berlin: Hartmann nicht, auch nicht die Frau vom Mond, und ich schon gar nicht. Ratlos harrten wir aus und ich zog die schwarze Wollmütze über meine Ohren, doch es war nicht möglich, das Geräusch draußen zu halten, die Schwingung war durchdringend. Gerade hatte Hartmann noch gesagt, er habe jetzt gerade ein Gedicht über Majakowski gelesen. Er hatte gesagt: Es handelt von Majakowskis Wae, seiner Pistole, die irgendwer verkaufen möchte. Sei das nicht wunderlich? Majakowskis Kopf wurde selbst mit einer Kugel verglichen. Kanonenkugelkopf, sagte Hartmann, wurde er damals auch genannt. Und gerade als er sagte, Matthew Dickman, es sei Matthew Dickman gewesen, der das Gedicht geschrieben habe, brach der Huf durch die Wolken.

Begründung der Jury

Von einem unerhörten Ereignis berichtet Philipp Böhms Erzählung ›Elektrisches Pferd am Himmel über Berlin‹: Über der Hauptstadt erscheint ein riesiges fliegendes Pferd aus Stahl. Der Erzähler befindet sich mit zwei Begleitern gerade auf dem Majakowskiring und wir erfahren von seinen Reflexionen, kurz bevor das Pferd auftauchte, vor allem aber erfahren wir von den endlosen Monologen seines Freundes Hartmann, der seit dem Vorabend von Hegel, Majakoski, der Revolution und dem Selbstmord spricht. Erzählt wird dies alles und mehr in einer Prosa, deren sprachliche Kraft und virtuose Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Phantastik die Jury sofort überzeugte.

Zur Jury 2015 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Stadtbibliothek Bremen) und Jens-Ulrich Davids (Vorstand Bremer Literaturkontor / Autor). 

Porträt von Philipp Böhm
© privat

Philipp Böhm, geboren 1988 in Ludwigshafen, hat in Jena ein Bachelorstudium in Germanistik und Politikwissenschaft absolviert. Dort war er zudem Chefredakteur der Uni-Zeitung ›Akrützel‹. Für den Master in Germanistik zog er 2012 nach Bremen. Zurzeit schreibt er seine Abschlussarbeit über Peter Weiss und die ›Ästhetik des Widerstands‹. Seine literarischen Texte hat Böhm bereits auf Lesungen präsentiert, einige seiner Erzählungen wurden in Literaturzeitschriften veröffentlicht.

In unserer Reihe MiniLit veröffentlichte Philipp Böhm im Heft Nr. 3 seinen Text ›Staub‹.