Janick Hoepfel – Auszug aus seinem Romanprojekt „Die Toten verweilen“

Sie starb an einem gewöhnlichen Dienstag. Es war ein Tag wie jeder andere, nur, dass meine Mutter ab diesem Tag mit einer Endgültigkeit aus meinem Leben verschwand, auf die ich nicht vorbereitet war. 

Dabei war es nicht der Fakt, dass sie nicht mehr Teil meines Lebens sein würde, denn das war sie auch zuvor schon nicht gewesen, sondern die Endgültigkeit, die mir dieser Fakt präsentierte. Ich wartete darauf, dass sich Trauer oder eine ähnliche Gefühlsregung bemerkbar machte. 

Als nichts dergleichen geschah, wechselte ich den Telefonhörer ans andere Ohr und lauschte dem vorwurfsvollen Schweigen meines Vaters, das als leises Rauschen durch den Äther getragen wurde. 

Das zweite Semester hatte gerade erst begonnen und markierte meine fast einjährige Abwesenheit von Zuhause. Mir wurde bewusst, dass ich nie zurückgerufen hatte. 

Der Tag meines Auszugs, der Tag an dem ich meine Mutter das letzte Mal gesehen hatte, tauchte vor meinem inneren Auge auf. So lebhaft, als sei nicht bereits ein Jahr vergangen: Unschlüssig hatte ich in der Wohnzimmertür gestanden und nach Worten gesucht, die verschleiern würden, wie kaputt unsere Beziehung in Wirklichkeit war. Den ganzen Tag über hatte sie sich nicht aus dem Wohnzimmer bewegt, hatte kein Wort von sich gegeben, während ich die Bücher-Kartons schleppte und meine wenigen Habseligkeiten in unserem alten Ford verstaut hatte. Ich betrachtete ihre zusammengesunkene Gestalt, die mir den Rücken zugewandt, teilnahmslos im Sessel saß – und da mir die passenden Worte fehlten, hatte ich einfach gar nichts gesagt. Ich kehrte ihr den Rücken, ging ohne zurückzublicken. 

Jetzt war sie tot. Doch ich spürte keine Trauer, keine Wut – nur eine merkwürdige Unruhe in der Magengegend, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken. 

Janick Hoepfel
© privat

Janick Hoepfel, geboren 1995, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Germanistik in Bremen und Japan. Während des Studiums absolvierte er Seminare zum journalistischen und kreativen Schreiben und arbeitete in einer Textagentur. Seine Texte sind vor allem durch die Aufenthalte in Japan und die Faszination für die dortige Folklore beeinflusst. Neben einer Veröffentlichung in der Zeitschrift Koller schaffte er es mit seiner Kurzgeschichte „Verkauf zerbrochener Träume“ unter die Top 100 des YoungStoryTeller-Awards 2023.


Begründung der Jury

Nachwuchsstipendium 

Im Mittelpunkt von Janick Hoepfels Romanprojekt, im Grunde einem klassischen Entwicklungsroman, steht die Ablösung von den Eltern. Der Ich-Erzähler hat mit dem Umzug in seinen Studienort ein Jahr vor Beginn der Handlung den Kontakt zu seinen Eltern mehr oder weniger bewusst abgebrochen. Grund ist vor allem das komplizierte Verhältnis zur Mutter, die alkoholkrank ist. Nach ihrem plötzlichen Tod merkt er, dass Ausweichen keine Lösung mehr ist und er sich dem eigentlichen Konflikt stellen muss. Der erzählerisch und sprachlich starke, sehr pointierte Einstieg und ein interessantes Gegeneinander von Introspektion und situativem Erzählen haben die Jury von dem Text überzeugt. Bildstarke und atmosphärische Passagen, in denen der Erzähler sich an Situationen in seinem Elternhaus erinnert, entwickeln einen ganz eigenen Sog. Das Verhältnis zu den Eltern wird dabei sehr ambivalent, aber auch zärtlich geschildert. Dieser Erzählton und der Plan, eine weitere Erzählebene, die mit den Mitteln des magischen Realismus arbeitet, einzuführen, machen gespannt auf die weitere Entwicklung des Projekts.

Zur Jury 2025 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Erwin Miedtke (Vorstand Bremer Literaturkontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Geschäftsleitung virt. Literaturhaus), Sibille Hüholt (freie Dramaturgin & Buchhändlerin in der Buchhandlung Logbuch), Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).