Katrin Heins – Auszug aus ihrem Romanprojekt „Die Häuser“

Hinteres Haus I

Ich öffne die Tür. Ich lausche, die Heizung brummt in die Stille. In die Totenstille, denke ich. Mein Elternhaus, aber nicht mehr das Haus meiner Eltern. 

Obwohl mein Vater erst seit einem Tag tot ist, wirkt das Haus leer und verwahrlost. Als habe es seinen Tod viel schneller verinnerlicht als ich. Ich stehe in der Küche und denke: Das gehört nun alles mir.

Ich blase die Mülltüte auf, die ich mitgebracht habe, und beginne, den Kühlschrank auszuräumen. Ärmlich sieht es aus. Ein Ei. Zwei Scheiben Mettwurst. Ein halbleeres Marmeladenglas. Eine Flasche Ketchup. Ein paar gekochte Kartoffeln in einer Tupperdose, für Bratkartoffeln aufgehoben. 

Ich werfe alles in die Tüte, die damit nicht einmal zu einem Viertel voll ist. Ich öffne noch ein paar Schubladen, werfe eine angebrochene Packung Zucker, den Kaffee und die Teebeutel weg. Dann setze ich mich an den Küchentisch. Ich sitze auf meinem Platz auf der Bank. Rechts der Stuhl meiner Mutter, links auf dem anderen Flügel der Eckbank mein Vater. Jetzt sind beide Plätze leer. Irgendwann bin ich auch nicht mehr, denke ich. Meine Mutter sagte einmal, ich habe mich erst erwachsen gefühlt, nachdem mein Vater gestorben war. Damals war sie so alt wie ich jetzt.

Ich fühle mich nicht erwachsen. Ich fühle mich alt und allein. Ich denke an die Jahre, die vor mir liegen. Wie oft ich mich in diesen Jahren so fühlen werde. Vielleicht wird dieses Gefühl wie eine Haut, denke ich, in der ich mich wohl fühle.

Ich mache eine Runde durch das Haus, sehe flüchtig in jeden Raum, drehe die Heizungsthermostate herunter, prüfe, ob die Fenster geschlossen sind. Ich bemühe mich, nichts anzusehen, was Erinnerungen hervorrufen könnte. 

Thermostate, Fenstergriffe. Nichts sonst. 

Wie still es hier ist. Ich denke an meinen Vater in dieser Stille. An die letzten vier Jahre, in denen er hier allein gelebt hat. Der Fernseher wurde erst abends angeschaltet. Das war so in ihm verankert. Kein Fernsehen vor 18 Uhr. Ich weiß nicht, warum. Alte Leute schauen schließlich den ganzen Tag fern. Ich habe ihn nie gefragt.

Alles, was ich nicht gefragt habe, wird ungefragt bleiben. 

Ich stelle mir vor, er käme plötzlich aus der Küche. Was würde ich tun? Ihm in die Arme fallen? Das bleibt undenkbar. Wahrscheinlich würden wir verlegen voreinander stehenbleiben. 

Wo kommst du denn her? würde ich fragen. 

Und er würde sagen: Wartest du schon lange?

Katrin Heins
© privat

Katrin Heins wurde 1969 in Bremen geboren, sie ist ausgebildete Schifffahrtskauffrau und Germanistin ohne Abschluss und lebt und arbeitet in Bremen. Bereits vor dreißig Jahren erhielt sie das Bremer Autorenstipendium zum ersten Mal. Sie hat Kurztexte und Erzählungen in Literaturzeitschriften veröffentlicht, war Teilnehmerin einer Romanwerkstatt des Literaturhauses München und hat eine Drehbuchausbildung absolviert. Nach einer langen Pause hat sich das Schreiben in den letzten Jahren seinen Platz in ihrem Leben zurückerobert. Zurzeit arbeitet sie an einem autobiographischen Roman.


Begründung der Jury

Projektstipendium 

Wer bin ich, wenn ich keine Tochter mehr bin? Diese Frage kreist Katrin Heins in ihrem Romanprojekt mit faszinierenden Suchbewegungen ein. Ort der Untersuchung ist ein Grundstück mit zwei Häusern, dem Elternhaus der Erzählerin und dem Elternhaus ihrer Mutter, das von der Erzählerin bewohnt wird. Die Mutter ist bereits vor einigen Jahren verstorben und nach dem Tod des Vaters steht eines der beiden Häuser leer. In diesem dichten Text werden die Häuser zu Resonanzräumen der Erinnerung und damit indirekt selbst zu Erzählern. Auf dem Weg von Raum zu Raum und von Drinnen nach Draußen geben Möbel und Gegenstände Anstöße zu Erinnerungen und Assoziationen, sei es zur Demenzerkrankung der Mutter oder zur Beziehung der Ich-Erzählerin. Diesem Gedankenfluss, der durchaus auch komisch von großen Fragen zu Banalitäten und wieder zurück mäandert, folgt man beim Lesen sehr gerne. Leise und unaufgeregt ziehen einen die präzise und schnörkellose Sprache und die starken Bilder dieses berührenden Textes über Trauer und Abschied in den Bann.

Zur Jury 2025 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Erwin Miedtke (Vorstand Bremer Literaturkontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Geschäftsleitung virt. Literaturhaus), Sibille Hüholt (freie Dramaturgin & Buchhändlerin in der Buchhandlung Logbuch), Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).