Katharina Mevissen: ›Ich kann dich hören‹

(Prolog)

Zuerst und vor allem sollst du zuhören. Denn so habe ich angefangen, und nach allem, was wir erlebt haben, kann ich dir mit geradem Blick in dein Gesicht sagen, dass das Zuhören etwas unfassbar Schönes ist.

Ella hat mir dieses Zuhören beigebracht, auch wenn ich schon vorher gar nicht so übel darin war. Ich hab sie gehört, oft, lange, gründlich, hab ihr zugehört, ihre Sätze fast auswendig gelernt. Ich würde sagen, dass ich sie kenne. Obwohl ich kein Bild von ihr habe, keinen Geruch. Das ist nicht so wichtig. Ohne Ella hätte ich nicht angefangen.

(…)

Ich schleiche auf der Radspur entlang, das Cello auf meinem Rücken ist schwerer als sonst. Müll und Pfand auf dem Weg. Loses Laub und leere Bäume. Ich will Kaffee jetzt, Kaffee mit Zucker, zum mitnehmen und weglaufen. Ich fühle mich verklumpt. Mein Kopf ist verstopft vom Wochenende im Ruhrgebiet, dem völlig daneben gespielten Notenmatsch von der Prüfung, dazwischen geistert Ellas Stimme herum. Die Tage wueden kürzer, es dämmert schnell, das Tageslicht überholt mich und verschwindet. Die gewissenhaften Radfahrer fahren mit Licht und klingeln mich vom Fahrstreifen. Ich rege mich heute noch nicht mal auf über diese beknackten Verkehrsklugscheißer, ich starre nach vorne und die Ampellichter starren glimmend zurück, durch die leeren Bäume. Nach Hause. Ich muss zumindest dieses beschissene Cello loswerden.

Ich komme nach Hause, oder zumindest nach dort, wo ich wohne.

Das Licht ist noch an, es ist schon wieder vergessen worden.

Abwesend puhle ich mir die Kontaktlinsen aus den Augen. Ansonsten lasse ich alles so, wie es ist. Den Belag auf den Zähnen, den Zucker, das Schlechte. Das Licht brennen, ich kann heute nicht, kann heute wirklich nicht der Letzte sein, der, der es ausmacht.

Jetzt bin ich bei dir, Ella. Setzte mir Kopfhörer auf, damit ich dich nicht teilen muss, damit ich mit dir alleine bin. Knipse deine Stimme an. Ich höre dich.

Track 8:

„Wir gucken in die Wolken, liegen im kalten Sand, die Wolken sind dick und quellig, wir gucken ihnen nach, wie schnell sie ziehen.

Auf Wolken kann man nicht liegen. Das ist nur Wasserdampf. Das hast du mir damals wirklich gesagt, als ich dir erzählt hab, dass ich mich gerade oben auf die Wolken legen würde, und fliegen. Nein, meintest du, hast, auf Wolken kannst du nicht liegen, die sind aus Wasserdampf, nur Wasserdampf, da fällst du einfach durch.“

Track 9:

„Hello, hi. Thank you for taking us. Yes, Galway is perfect. And… oh, sorry. I am Ella, my name is Ella. That’s my sister, Jo. (Geräusche: irisches Autoradio, undeutliche Männer- stimme) Yes, yes, from Germany, you know Hamburg, of course? We are from Hamburg. (Wieder Männerstimme, unverständlich, Radio wird lauter gedreht). „I don’t know that song, but I like it. Yes, the music is good. (Männerstimme) Oh, no, she can’t hear it. My sister is deaf. (Musik wird noch lauter gedreht) No, no, she won’t hear it, only the beat, sometimes.“

Ich drücke auf Pause. Halte die Augen geschlossen. Höre halbe Sätze Musik, die in meinen Ohren anschwellen, und sehe den riesigen, dicken Wolken zu, auf denen ich nicht liegen kann. Ich presse meine Handflächen fest in die Matratze.

Bild von Katharina Mevissen
© Denise Sterr

Katharina Mevissen, geboren 1991, ist im Rheinland bei Aachen aufgewachsen. Seit 2010 lebt sie in Bremen, wo sie Kulturwissenschaft (BA) studiert hat und inzwischen den MA Transnationale Literaturwissenschaft absolviert. Sie war in zahlreichen Jungautoren-Projekten aktiv, u.a. beim Jungen Literaturhaus Köln, der Theaterwerkstatt und der Kunsthalle Bremen. Sie schreibt vor allem Poesie und Langprosa, derzeit arbeitet sie an der Skript Akademie Berlin an einem Drehbuch, das beim Wettbewerb des Sehsüchte-Filmfestivals 2015 Potsdam prämiert wurde. Als Teil des Bremer Poesie-Kollektivs ›gabrieleschreibtgedichte‹ tritt sie auf öffentlichen Lesungen und Festivals auf, darunter ›zwiesprache lyrik‹ und die ›globale° 2015‹.

Begründung der Jury

In Katharina Mevissens interessanten und gescheiten Romanprojekt Ich kann dich hören durchwirkt das Leitmotiv ›Hören und Taubheit‹ die vorgeführte Lebenswirklichkeit auf verschiedenen Erzählebenen: Vater und Sohn sind beide Musiker; sie lernen allmählich, sich zuzuhören (die Tante kann es schon); der Sohn findet ein Diktiergerät und lauscht dem Tagebuch einer Fremden, das seinen Lebensweg beeinflusst; eine junge taubstumme Frau verzichtet auf eine Operation. Stränge der Erzählung werden geschickt miteinander verknüpft. Es gelingt der Autorin, in präziser und gleichzeitig differenzierter Sprache die Personen zu charakterisieren und die Handlung fortzuschreiben. Was uns darüber hinaus gefiel, ist, dass hier eine deutsche türkischstämmige Familie handelt, leidet, liebt und lernt, ohne dass irgendwelche Migranten-Klischees bemüht würden. Bravo! Wir sind neugierig auf das fertige Produkt.

Zur Jury 2015 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Stadtbibliothek Bremen) und Jens-Ulrich Davids (Vorstand Bremer Literaturkontor / Autor).