Bettina Beutler-Prahm: ›Ob es reicht‹

Oktavsprung

Er hatte seinen Panzer angezogen und war raus. Die Tür zugeschlagen, Beats auf und abgetaucht. Es begann gerade hell zu werden, die ersten Geschäfte machten schon auf, aber Paul hatte vorgesorgt. In seinem Turnbeutel, den er über die Schultern gehängt hatte, befand sich genug Proviant, mehr würde er nicht brauchen. Bloß keinen Kontakt. Zu niemandem.

Jetzt nicht.

Als er sie das erste Mal traf, im Supermarkt, zusammen mit Felix – du weißt doch, Mama, Felix, Felix aus dem Kindergarten – hatte er sie im ersten Moment für Felix’ Bruder gehalten, mit dem komischen Haarschnitt und den weiten Klamotten. Hatte sie für seinen Bruder gehalten und, weil sie so klein war und ihn so breit angrinste, geglaubt, der sei irgendwie nicht ganz richtig im Kopf. Das hatte er nicht gewusst, dass Felix einen Bruder hatte, der nicht ganz richtig im Kopf war, im Kindergarten hatte er den jedenfalls noch nicht gehabt. Jetzt aber auch nicht. Anna war nicht sein Bruder, und sie hatte erst recht keine Meise – jedenfalls nicht mehr als die meisten anderen und er selbst auch. Eigentlich sogar noch deutlich weniger als er selbst.

Anna. ANNA. Trotzig schaltete Paul die Musik lauter. Sie hatten richtig viel Spaß miteinander gehabt. Anna. Warum hatte es nicht so bleiben können. Lachen, bis man keine Luft mehr bekam und wirklich Angst hatte, zu ersticken, aber dann auch wieder keine Angst, weil, es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, es war gerade so schön. Scheiße bauen, sich zusammen stark fühlen, Geheimnisse haben, den ganzen Tag zusammen auf dem Bett liegen und zocken, aus dem Fenster gucken, lästern, Videos ansehen, boxen, den Kopf streicheln, die seidigen Haare, die blonden Locken. Ey Alter, was geht.

Irgendwann wurde es schwierig. Damit hatte er nicht gerechnet, war nicht vorbereitet gewesen, was auch immer. Die brennende Röte, die es Paul bei dem Gedanken an die letzten Begegnungen mit Anna vor Weihnachten ins Gesicht trieb, bahnte sich sofort – instant, Alter – einen Weg zu dem leichten Gefühl von Übelkeit weiter unten im Körper, verband sich, schoss hinein, hob die Übelkeit an, die in einer geradezu organischen Welle ins Gehirn zurückschwappte und alles andere daraus verdrängte. Wie Hirnfrost, nur in heiß. Hirnbrand. Instinktiv schob Paul die geballten Hände tiefer in die Taschen seines Anoraks und beschleunigte seinen Gang.

Anna war anders gewesen als die anderen Mädchen, hatte er gedacht. Anna war doch anders.

Aber dann eben doch wieder nicht. (…)

Bild von Bettina Beutler-Prahm
© privat

Bettina Beutler-Prahm wurde 1968 in Heidelberg geboren und ist in Bremen aufgewachsen. Sie hat Jura in Bielefeld und Berlin studiert, in der Dramaturgie der Berliner Staatsoper gejobbt und für den Aufbau-Verlag als Justiziarin gearbeitet. Seit 2003 lebt sie wieder in Bremen und hat dort an der Universität Musikwissenschaften studiert. Sie schreibt Kurzprosa, Rezensionen und Sachtexte, arbeitet derzeit an einem Kurzgeschichtenband und ist Teilnehmerin der Prosawerkstatt 2016 des Bremer Literaturkontors.

Begründung der Jury

In einer lockeren Sammlung von Kurzgeschichten (Arbeitstitel: ›Ob es reicht‹), die scheinbar in keinem thematischen Zusammenhang stehen, handelt es sich hier um ein Buchprojekt, das aus verschiedenen Perspektiven von unterschiedlichen Lebenssituationen erzählt. Es geht dabei weniger um die Wiedergabe inhaltlicher Ereignisse als vielmehr um die Gefühlswelten der Protagonisten in der Spiegelung mit der Außenwelt. Sprachlich sehr lebendig – wechselnd zwischen Ich- und auktorialem Erzähler, mündlichem und reflektierendem Sprechen – gelingt es Sabine Beutler-Prahm neugierig zu machen auf das Gesamtprojekt.

Zur Jury 2016 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Bremer Literaturkontor / Stadtbibliothek Bremen), Jens-Ulrich Davids (Bremer Literaturkontor / Autor) und Katharina Mevissen (Autorenstipendiatin 2015).