Porträts von sechs Autor*innen, die am Coronablog-Projekt teilnahmen

Corona-Blog: Frühjahr 2020

Porträt von Anna Lott
© Julia Windhoff

Anna Lott vom 14. bis 18. April 2020

Anna Lott schreibt Bücher, Drehbücher und Hörfunkgeschichten und ist zunehmend für ihre lebendigen und humorvollen Lesungen bekannt. Ihre Bücher erscheinen in den Verlagen Arena, dtv junior, Carlsen und Thienemann-Esslinger. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen in Bremen. 

www.annalott.com

 

 

Tag 1: Dienstag, 14. April 2020
Rückblick – Mitte März:

Fakt 1: 17 Lesungsabsagen für diesen Monat aufgrund der (über)regionalen Schul‑, Theater- und Bibliotheksschließungen. Ein herber Verlust, fällt doch damit ein großer Teil meiner kalkulierten Einkünfte für die nächsten Monate weg, und zwar nicht nur für mich, sondern für meine ganze dreiköpfige Familie.

Fakt 2: Die Schulen in Bremen werden geschlossen. Da ich alleinerziehend bin, bedeutet das: Ich bin für die nächsten zwei Wochen Lehrerin und Rundumversorgerin meiner zwei Söhne.

Erkenntnis 1: Entschädigung für Lesungsausfälle? Null. Nix. Mir wird zum ersten Mal tatsächlich bewusst, dass es keine Verträge gibt, die mich finanziell absichern, alles läuft auf Absprachen- und Vertrauensbasis. Hat ja auch bislang immer prima funktioniert. Ich telefoniere mit einem der vier Verlage, für die ich schreibe. Die Ansprechpartnerin, die Lesungen in die Wege leitet und koordiniert, sagt mir Beratung und Unterstützung zu, schickt mir einen Vertragsentwurf für die Zukunft. Doch eine Absicherung im Falle einer Pandemie ist auch darin nicht enthalten. Allgemeine Verwirrung. Parallel dazu Mails von Schulen: „Schade, dass es nicht klappt. Alles Gute!“ Das ist nett gemeint, genauso wie der Plan, einige Lesungen in den Herbst zu verlegen. Dann jedoch habe ich bereits zahlreiche Lesungen an anderen Orten und schreibe an Projekten. Demzufolge gibt es kaum Kapazitäten, den finanziellen Verlust auszugleichen. Und: Die Einkünfte fehlen de facto jetzt.

Erkenntnis 2: Mein akribisch ausgetüftelter Plan einer Kombination von Home-Schooling morgens und Romanschreiben am Nachmittag funktioniert nicht. Meine Kids benötigen meine Unterstützung inclusive Unmengen an geschmierten Butterbroten. Beim anschließenden gemeinsamen Mittagessen penne ich fast ein. Dann ziehe ich mich wie geplant in mein Büro zurück. Doch mein Kopf ist dumpf und leer. Ich lege mich eine Weile auf´s Sofa. Aber ich kann nicht schlafen, ich bin zu nervös. Ich kapiere, dass ich aller Voraussicht nach in den nächsten Wochen, vielleicht sogar Monaten kein Geld verdienen werde.

Erkenntnis 3: Ich brauche einen neuen Plan.

Tag 2, Mittwoch, 15. April 2020
Noch immer Rückblick – Mitte März

Es gibt ein Quatschspiel, das Kinder gerne spielen, es heißt „Verkehrte Welt“. Bei diesem Spiel wird alles in sein Gegenteil verkehrt. Da ist die Sonne plötzlich gefroren oder unter den Füßen wachsen Dauerwellen. So ist das gerade:

Informationen aus der Presse aktualisieren sich im Minutentakt, die Lehrerinnen meiner Kinder schicken unzählige Mails, dazu Anrufe von Verwandten, Freunden, Kolleginnen, Tipps und Nachrichten aus der Buch- und Filmbranche. Ich fühle mich wie in dieser gläsernen Kugel, in der früher die Lottokugeln umherwirbelten. Jetzt sausen die Kugeln um mich herum, prasseln auf mich ein, sind teilweise so schnell, dass mir ganz schwindlig wird. Und mittendrin stehe ich, erschöpft und schwitzend auf der Pausentaste meines beruflichen Alltags, und versuche einen neuen Plan zu schmieden. Ein Plan, der nicht dem Motor meiner existentiellen Angst folgt, sondern akut, handfest und nachhaltig wirksam ist. Denn Angst macht mitunter dumm. Da spreche ich aus Erfahrung.

Also springe ich von der Pausentaste und begebe mich an den Rand des Geschehens. Von dort aus beobachte ich, welche Wege die Kolleginnen und Kollegen aus der Kinderbuchbranche unternehmen, um die finanziellen Verluste aufgrund entfallener Lesungen auszugleichen. Viele jammern. Ist alles schrecklich, ich weiß. Aber es hilft mir gerade nicht weiter. Viele setzen sich für Online-Lesungen ein. Lesungen im Netz? Meine Lesungen leben von Austausch, Kooperation, Freude im Miteinander, von Quatsch und Kurzweiligkeit. Und, jetzt mal ehrlich: Erwachsene mögen das ja gut finden, aber Kinder? Hallo?! Wir sind nicht im zweiten Weltkrieg, wir schreiben das Jahr 2020, es gibt Filme, Hörspiele, Blogs, E‑Books und Games! Ein Schwall Lottokugeln prasselt auf mich ein. Aua. Okay, okay, ich habe Vorurteile. Ich gebe es zu. Ich schaue mir also eine Online-Lesung von einer Kinderbuchautorin an, die ganz besonders für diesen Weg der Literaturvermittlung schwärmt. Sorry, ich bin raus.

Doch plötzlich habe ich Selbstzweifel: Mache ich gerade etwas komplett falsch? Mache ich mich mit meiner Haltung zur Außenseiterin meiner Branche, weil ich nicht mitmache? Nun ist sie plötzlich doch da, die Angst. Nicht nur die Verlage und Produktionsfirmen haben Schnappatmung aufgrund des Stillstandes, auch mir wird schwindlig. Ich beginne nachts schlecht zu schlafen. Meine Kinder spüren meine Anspannung. So geht das nicht.

Stopp.

Tag 3, Donnerstag, 16. April 2020
Wie war das? Was habe ich da geschrieben? „Ein Plan, der nicht dem Motor meiner existentiellen Angst folgt, sondern akut, handfest und nachhaltig wirksam ist.“

Oha.

Ich beschließe, Pingpong zu spielen. So nenne ich die Art und Weise, wie ich am liebsten arbeite. Ich entwickle Exposés, Konzepte und Ideen und mache den Aufschlag. Ping. Und dann warte ich ab, was von den Verlagslektorinnen oder anderen Kooperationspartner(inne)n zurückkommt. Pong. Oder es läuft anders herum: Sie haben eine Idee und ich spiele den Ball zurück. Wenn es gut läuft, fliegen anschließend die Bälle hin und her. Ich liebe diese Art von Austausch. Das tut nicht nur den Geschichten gut, das tut auch mir gut und beflügelt mich.

Die Corona-Situation verändert alles. Aber dieses gut funktionierende Konzept könnte auch hier funktionieren. Also probiere ich es aus.

Ping (Aufschlag 1): Ich schildere meinem Verlag ehrlich meine Sorgen: Dass ich aktuell einen erheblichen finanziellen Einbruch habe. Dass ich aktuell nicht arbeiten kann. Dass ich nicht weiß, wann das wieder möglich sein wird. Dass ich Angst habe, dass die Kolleginnen und Kollegen ohne Kinder mit loderndem Feuerschweif an mir vorbeizischen, während ich ausgebrannt am Straßenrand liege. Schlussfrage: Gibt es Sicherheiten?

Ping (Aufschlag 2): Ich stelle einen Antrag beim Land Bremen für Soloselbstständige. Zunächst wollte ich das nicht. Ich dachte: „Ach, ich hab doch noch genügend Rücklagen für die nächsten Monate, andere haben das doch viel nötiger als ich.“ Ich ertappte mich dabei, dass ich meine Arbeit geringschätze, indem ich so etwas denke. Durch den Austausch, vor allem mit Kolleginnen aus der Kreativbranche, weiß ich, dass ich nicht die einzige Frau bin, die in solchen Bahnen denkt.

Der Aufschlag gelingt nicht wirklich. Der Pingpongball landet nämlich zunächst beim BIS in Bremerhaven und nicht bei der Bremer Aufbaubank. Oh.

Ping (Aufschlag 2a): Ich kümmere mich darum, dass mein Antrag bei der Bremer Aufbaubank ankommt.

Ping (Aufschlag 2b): Ich kümmere mich parallel um die Künstlersoforthilfe des Landes Bremen. Himmel, ist das kompliziert. Wann darf man was wie wo einreichen? Und warum soll ich auflisten, wie viel Geld ich trotz der Lesungsausfälle dennoch verdient habe und verdiene? Verstehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde, wie Menschen wie ich ihre Einkünfte kalkulieren? Dass einen Monat die Flut ins Haus schwappt und dann wieder monatelang Ebbe herrscht? Ausgerechnet der März sieht aufgrund der ausstehenden Tantiemen gut aus. Lügen? Besser nicht. Eine Strafe in dieser Situation hat mir gerade noch gefehlt. Ich fülle den Antrag ehrlich aus. Und dann: Aufschlag.

Und jetzt warte ich aufs Pong.

Tag 4, Freitag, 17. April 2020
Noch immer März

Ich bin baff. Nein, mehr noch. Ich bin gerührt.

Die Programmleiterin einer meiner Verlage, mit denen ich arbeite, ruft mich am späten Freitagnachmittag an. Sie erklärt mir, dass viele Verlage um ihre Existenz kämpfen, in den Handelswegen herrsche mitunter Stillstand. Viele Lektorinnen arbeiten im Home-Office. Die Neuerscheinungen finden ihr Publikum nicht aufgrund der geschlossenen Buchhandlungen, Amazon konzentriert sich vorrangig auf Hygieneartikel und Technik, stellt den Buchhandel hintenan. Nicht zu vergessen die ausgefallenen Buchmessen in Leipzig, Bologna, London. Es fehlen die Worte für diese schwierige Zeit. Nicht nur ihr, auch mir.

Sie hätte von meinen Befürchtungen gehört, deshalb rufe sie an. Sie versichert mir, dass der Verlag mich nicht im Stich lässt. Ich bin kurz davor zu heulen. Die Haut ist dünn in dieser Zeit.

Meine Branche ist stetig unsicher, du kannst Glück haben oder Pech oder irgendetwas dazwischen. Es gibt eine Menge fabelhafter Autorinnen und Autoren, dafür reicht der Platz hier nicht, um all ihre Namen aufzuschreiben. Ich bin eine von vielen. Ob fabelhaft oder nicht, lassen wir einmal außen vor.

Das, was hier gerade geschieht, fühlt sich an wie ein Sechser im Lotto. Ich stehe nicht mehr wie noch vor einigen Tagen in der gläsernen Kugel auf der Pausentaste und schwitze zwischen umherfliegenden Lottokugeln. Nein. Sechs Kugeln liegen in meiner Hand. Denn vor mir tut sich wieder eine Perspektive auf.

Nicht zum ersten Mal wird mir bewusst, wie wichtig mir Verbindlichkeiten für meine kreative Arbeit sind. Verbindlichkeiten, die nicht immer, aber oft finanzielle Sicherheiten nach sich ziehen. Ein Teil eines Ganzen zu sein. Zugehörig zu sein. Das ist in meinem Beruf oft vakant. Ich kenne viele Kunstschaffende, die entspannt sind, obwohl sie keine Ahnung haben, ob ein Verlag mit ihnen arbeiten möchte oder nicht. Die nicht wissen, was sie im nächsten Monat verdienen werden. Ich bin nicht so. Nicht erst, seitdem ich Mutter von zwei Kindern bin.

In den letzten Tagen hatte ich versucht, ein altes, überschaubares Projekt aus meinem digitalen Ordner „Projektideen“ erneut zum Leben zu erwecken. Etwas, das ich trotz der großen Herausforderung des Alltags derzeit bewältigen kann. Doch die Texte waren lieblos und zynisch geworden. Ich weiß, dass ich so schreibe, wenn ich ängstlich bin. Dann brodelt es in mir wie in einem sauren Hexenkessel und heraus kommt zwar etwas Knalliges, Lustiges, aber es ist ätzend, geprägt von einem grundsätzlichen Pessimismus. Ich mag es nicht, wenn ich so schreibe. Interessanterweise hatte ich auch noch nie Erfolg damit.

Innerhalb kürzester Zeit schreibe ich das Konzept um. Mit Herz, Leidenschaft und Verstand. Und dann eine Mail vom Land Bremen. Ich bekomme die Künstlersoforthilfe! Gibt es eigentlich einen Siebener im Lotto?

Tag 5, Samstag, 18. April 2020
Inzwischen ist eine Weile vergangen. Meine Kinder sind aktuell in der gläsernen Kugel ihres Vaters. Ich bin in der gläsernen Kugel daheim, Noch immer fliegen die Lottokugeln um mich herum, doch ich schwitze nicht mehr und die Pausentaste ist inzwischen verschwunden. Stattdessen sitze ich auf der Playtaste. An meinem Schreibtisch, ohne Mundschutz, dafür jedoch ausgestattet mit einem bequemen Sicherheitshelm. Damit die besonders harten Kugeln an mir abprallen. Ha! Ausgetrickst!

Während ich einerseits diesen Blog schreibe und ENDLICH an meinem Roman weiterarbeite, beschäftigt mich andererseits die Frage, inwiefern ich eigentlich inhaltlich mit den aktuellen Geschehnissen in dieser Zeit kreativ umgehe. Ich habe keinerlei Bedürfnis, diese Zeit literarisch konkret zu thematisieren. Was jedoch nicht bedeutet, dass ich nicht auf die aktuellen Geschehnisse reagiere – ganz im Gegenteil.

In den letzten Wochen ploppte immer wieder der Schriftsteller Otfried Preußler in meinen Gedanken auf. 1962 erschien sein erster „Räuber Hotzenplotz“-Roman. Trotz seines unschlagbaren Erfolgs erlebte Preußler immer wieder Gegenwind. Kritiker warfen ihm Weltfremde vor, denn er reagierte nicht vordergründig auf die Themen seiner Zeit, wie beispielsweise antiautoritäre Erziehung, Widerstand gegen Atomkraft und so weiter. Nein, er erzählte Geschichten, weil Menschen Geschichten lieben, in die sie eintauchen können, die sie sprichwörtlich „weltvergessen“ machen. Oder weltoffen, wie man es nimmt.

Ich verlasse meine Kugel und gehe joggen. Während ich an Menschen mit verkniffenen Mündern und entspannten Bäuchen vorbeilaufe, frage ich mich, warum ich ständig daran denken muss. Was hat Otfried Preußler mit heute und jetzt zu tun? In meinen Gedanken wirbeln die Fragen und Antworten hin und her. Etwa so:

Möchte ich das Virus in meinen Geschichten thematisieren?

Nein, auf gar keinen Fall. Das reale Virus macht bloß Angst und hilft aktuell niemandem. Mal davon abgesehen, habe ich keine Lust dazu.

Könnte das Virus nicht ein Bild für einen starken Antagonisten sein?

Ja, möglicherweise. Die grauen Männer in Michael Endes „Momo“ waren eine fabelhafte Übersetzung der Depression in Figuren.

Ist vielleicht irgendetwas am Virus lustig?

Grundsätzlich nein, aber es geschehen Dinge, die tragisch-komisch sind.

Aha. Was ist tragisch-komisch?

Die Reaktion einiger Menschen. Sie sind vordergründig komisch, doch im Kern tragisch. Beispielsweise Menschen mit fast komplett verhülltem Gesicht. Es sieht lustig aus, aber darunter verbirgt sich möglicherweise Angst.

Möchte ich das thematisieren?

Ja. Denn hier zeigt sich das Menschsein in all seinen Facetten.

Das ist es.

Ich blende die aktuelle Situation nicht aus, ich arbeite mit ihr. Ich entnehme ihr Komik und Tragik für meine Geschichten. Ich kreiere Antagonisten. Ich lache und ich weine mit meinen Figuren. Ich schüttle über sie den Kopf und könnte sie zum Mond schießen. Genauso wie es vielleicht einst Otfried Preußler und Michael Ende und die vielen, vielen anderen Autorinnen und Autoren getan haben und/oder noch heute tun. Wer weiß das schon.

Ich jedenfalls mache mich nun an die Arbeit. Weiter geht´s!


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