Sabine Breitbach: ›Das Foto‹

Eines Tages, viele Jahre später, wird sie an einem frühen Morgen, noch vor dem Weckerklingeln wach werden und vor ihrem inneren Auge, auf der Leinwand, auf der gerade noch die nächtlichen Traumfilme liefen, wird immer noch ein Bild zu sehen sein. Dieses Standbild wird nach dem Aufstehen nicht verschwinden, auch nicht beim Duschen oder beim Frühstück und selbst am Abend wird es immer noch nicht verblasst sein. Sie wird es nicht mehr vergessen, nun, nachdem sie damit begonnen hat, sich daran zu erinnern. Es ist die Erinnerung an ein Foto, das sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat und sie wird sich erinnern, dass sie dabei war als dieses Foto entstand. Jedenfalls wird sie glauben, sich daran zu erinnern.

Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt zwei Personen vor einer Ziegelmauer und eine Brettertür im weichen Licht eines verregneten Vormittags. Die zwei, eine junge Frau und ein etwas jüngerer Bursche, sind Bruder und Schwester, es sind ihre Geschwister. Die Schwester schaut direkt in die Kamera und krümmt sich vor Lachen, der Bruder rechts daneben sieht betreten grinsend zum Fotografen. Dort hinter der Tür neben den beiden steckt der Anlass für ihr Gelächter, eine dritte Person, unsichtbar. Diese Person, der kleinere Bruder, würde gerne das ungastliche Chemieklo verlassen, das er wegen Durchfalls an diesem Vormittag schon viele Male aufsuchen musste, kann es aber nicht, denn von außen ist der Riegel vorgeschoben. Später wird sie, die jüngste Schwester, sich an sein wütendes Getrampel und Geheule hinter der Brettertür zu erinnern meinen, aber was bedeutet das schon? Sie meint, sich auch zu erinnern, als dieses Foto entstand, rechts knapp hinter ihrem Vater gestanden zu haben, gerade erst hinzugelaufen, als er seine alte Balgenkamera gehoben hatte, um die letzten Fotos auf dem Film auszunutzen. Vielleicht, und das ist ebenso wahrscheinlich, hat er jedoch mit der kleinen Sucherkamera fotografiert, die ihre Schwester zur Konfirmation bekommen hatte. Sie ist ziemlich sicher, hingelaufen zu sein, weil gelacht wurde, meint sich außerdem zu erinnern, auch jenes Mal wieder nicht verstanden zu haben, worüber eigentlich gelacht wurde. Sie hätte eben gerne mitgelacht.

Es war eine kurze Pause im Dauerregen einer Reihe trister Tage. Für ein paar Minuten hielten die Wolken, die sich schwer und grauschwarz und grünlich über den Himmel wälzten, dicht. Wahrscheinlich waren sie alle einfach nur erleichtert, jetzt endlich wieder nach Hause zu fahren. Und vielleicht bedeutete dieses Lachen auch nichts anderes als Erleichterung, nur Rolf kam nicht herunter von diesem Plumpsklo in dem Bretterverschlag.

Später wird sie sich fragen, ob sie damals auch gelacht hat, ihren nur wenig älteren Bruder ausgelacht hat in seiner Notlage und seiner Wut, und sie wird sich wünschen, nicht gelacht zu haben, und wenn doch, würde sie sich heute noch dafür schämen, über vierzig Jahre später, denn wie auf dem Foto ist dieser Bruder auch in der heutigen Wirklichkeit nicht sichtbar, sondern seit Jahren verschwunden. Und sie wird sich fragen, was da in diesen Jahren eigentlich so schief gelaufen ist, dass er so gründlich hatte verschwinden müssen. Sicher war es nicht nur diese eine Szene und der Vater, der nichts Besseres zu tun hatte, als ein Foto davon zu machen, während Rolf hinter der Tür randalierte. Und sie wird dieses Foto im Kopf mit sich herumtragen und es nicht verstehen, wieder einmal nicht verstehen, was vor sich ging und warum eigentlich gelacht wurde. So wie sie damals oft dabei gestanden hat und sich ein Bild, einen Satz, einen Gesichtsausdruck zu merken versuchte, um ihn später zu verstehen, später, wenn sie größer wäre.

Bild von Sabine Breitbach
© privat

Sabine Breitbach wurde 1962 in Duisburg geboren und lebt seit 1987 in Bremen. Sie war unter anderem Studentin, Krankenschwester und Offsetdruckerin. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Fahrradreparaturen. Sie hat geschrieben, gezeichnet, gemalt, fotografiert und war als Bildhauerin tätig. Seit etwa drei Jahren arbeitet sie an einer Sammlung lose verbundener kleiner Geschichten mit dem Arbeitstitel: ›Alles wie immer‹.

Begründung der Jury

In atmosphärisch dichten Sätzen erzählt Sabine Breitbach in ›Alles wie immer‹ von einer vergangenen Kindheit und den Versuchen ihrer Protagonistin, sich dieser Vergangenheit wieder anzunähern. Es sind Erinnerungen an einen verkorksten Sommerurlaub, an nächtliche Spaziergänge im Schnee in der Jugend.
Der Wechsel zwischen den Zeiten, die genauen Beschreibungen und vor allem die sprachliche Qualität der Textprobe hob ›Alles wie immer‹ aus der Menge der Einsendungen heraus und überzeugte die Jury, eines der Autorenstipendien 2016 an Sabine Breitbach zu vergeben.

Zur Jury 2016 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Bremer Literaturkontor / Stadtbibliothek Bremen), Jens-Ulrich Davids (Bremer Literaturkontor / Autor) und Katharina Mevissen (Autorenstipendiatin 2015).