Helge Hommers: ›Ostfriesland‹ (AT)

Meine Ur-Oma war eine starke Teetrinkerin. Manche aus der Familie behaupten, sie habe genauso viel Tee in sich hineinschütten können wie mein Ur-Opa Schnaps. Und das, so erzählt man sich, soll eine beträchtliche Menge gewesen sein.

Erinnern kann ich mich kaum an sie, weder an ihr Gesicht noch an den Klang ihrer Stimme. Dafür an das schwarze, bis unters Kinn geknöpfte Kleid und das Zweimarkstück, das sie mir gab, wenn ich für ein paar Minuten bei ihr gewesen war.

So spendabel Ur-Oma war, so stur soll sie auch gewesen sein. Von ihren Ansichten und Vorhaben ließ sie sich so gut wie nie abbringen. Auch dann nicht, wenn die Argumente eher gegen sie sprachen. So war es auch damals, kurz nachdem sie meinen Opa zur Welt gebracht hatte.

Wie jedes Mal, wenn die Dorfhebamme von Ur-Opa ihren Lohn entgegengenommen hatte, fuhr Ur-Oma ein paar Tage später nach Emden. In die Stadt, wie sie zu sagen pflegte. Leisten konnte sich die Familie solche Ausflüge nicht. Doch Ur-Oma bestand darauf, denn ein paar Jahre zuvor hatte sie Ur-Opa das erste Mal zum Vater gemacht, woraufhin sie die einzige gemeinsame Reise ihres Lebens antraten, um in Emden Schuhe für das Neugeborene zu besorgen.

Ur-Oma, die bis dahin nur in klobigen Holzpantinen herum geschlurft war, erhielt ebenfalls ein Paar Lederschuhe. Diesen Luxus wollte sie sich erhalten und rang meinem vor Glückseligkeit unzurechnungsfähigen Ur-Opa das Versprechen ab, bei jedem weiteren Sohn ein neues Paar kaufen zu dürfen.

So viele Söhne, dachte Ur-Opa, kann sie gar nicht gebären, um die Familie arm zu machen, und willigte ein. Doch da hatte er seine Frau unterschätzt.

Begründung der Jury

Der Auszug aus Helge Hommers’ Romanprojekt Die Boomgardens erzählt unter der Überschrift Das letzte Paar Schnürschuhe zunächst die Geschichte der Urgroßmutter des Erzählers, die 1933 kurzfristig von den Nazis verhaftet wurde, weil sie bei einem jüdischen Schuhmacher einkaufte. Diese Familiengeschichte von vermeintlicher Zivilcourage und bäuerlicher Naivität gegenüber dem NS-Herrschaftssystem ahmt ein bekanntes Muster nach, doch Hommers’ Text stellt sich schließlich als Versuch eines jungen Mannes heraus, die Erinnerungen seines Großvaters aufzuschreiben. Dieser reflektierte Umgang mit dem eigenen Schreiben und den Möglichkeiten, von der Vergangenheit zu erzählen, hat die Jury ebenso überzeugt wie die sprachliche Qualität des Textauszugs.

Zur Jury 2018 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Bernd Gosau (Freier Lektor) und Regina Weber (Bremer Literaturkontor / Redakteurin, Lektorin).

Bild von Helge Hommers
© Saskia Pertersen

Helge Hommers wurde 1989 in Emden geboren. Nach dem Abitur leistete er seinen Zivildienst in Bremen, wo er im Anschluss ein Studium der Linguistik und Sportwissenschaften begann. Danach machte er seinen Master in Transnationale Literaturwissenschaften in Bremen und Prag. Nachdem Hommers bereits als freier Autor für den Weser Kurier gearbeitet hat, wird er dort im Herbst 2018 ein Volontariat beginnen. Einige seiner Kurzgeschichten wurden in Literaturanthologien veröffentlicht und mit Preisen ausgezeichnet.