Elias lag neben ihr in seinem Glasbettchen. Puls, Sauerstoffsättigung, der Monitor lief durchgehend. Alva wusste, ab jetzt ging es um ihn. Von links hörte sie auf einmal die Musik einer Blaskapelle. Wo kam sie her? Fünf Tage lang hatte sie keine Musik gehört. Bildete sie sie sich nur ein?
Es war früher Abend. Alva musste das Krisenmanagement wie ein Mantra wiederholen. Füße spüren, dem eigenen Atem lauschen. Ihr fiel wieder ein, was die letzte Hebamme zu ihr gesagt hatte: Geburt sei eine Geduldsprobe. Seit der Geburt konnte Alva es nicht erwarten, dass die Zeit verstrich.
Sie waren allein, zu zweit, es war warm, alles lag herum, Stilleinlagen, Thrombosespritzen, Ibuprofen. Alles was zählte. Alva konnte liegen, ruhen, ihren Geist auf dieser Pritsche erholen, den schmerzenden Kopf ablegen, Schweiß, Tränen trocknen. Elias schlief und die Musik erdete Alva, brachte ihr für einen kurzen Moment den verlorenen Boden zurück.
In zwei Stunden würde das Stillprozedere wieder von vorne beginnen, Elias würde dabei irgendwann einschlafen, dann müsste Alva ihn wiegen, die Messgeräte wieder anschließen und nachrechnen, wie viele Milliliter Milch sie ihm gegeben hatte und wie viele Milliliter aus dem Kühlschrank zu holen waren, danach die Aufsätze an ihre Brust halten und pumpen, sich freuen, wenn es mehr als 80ml waren – das Gläschen beschriften, in den Kühlschrank bringen – Elias schlief in seinem Bett, Alva legte sich hin.
Von ihrem Klappbett aus konnte sie auf den Innenhof des Krankenhauses schauen; es war ein warmer Abend, seit Elias auf der Welt war, gab es nur heiße Nächte. Von Innenhof des Krankenhauses ertönte die Musik, und es war, als hätte Alva noch nie in ihrem Leben Musik gehört, zumindest nicht diese Musik, langsam, tragend, Hoffnung spendend. War sie echt?
Das Grün des Innenhofs war ihr erstes Grün. Als wären diese Orte -das Zimmer, der Innenhof des Krankenhauses- ab jetzt für immer gespeichert in ihrer inneren Landkarte, als wäre auch sie an diesem Ort neu geboren worden. Alva hatte alles und jeden vergessen, den sie je kannte. Ihr war gleich, was kam, sie wusste, alles, was kam, wäre anders als alles zuvor Gewesene und die Blaskapelle war ihre erste Musik, die sie beinahe heilte, und weil Elias in einem Bett aus Glas lag, nannte Alva sie die Glaskapelle.
Leyla Bektaş wurde 1988 in Achim geboren und wuchs als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Bremen auf. Sie studierte Romanistik in Köln, Bordeaux und Mexiko-Stadt. Nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin für spanischsprachige Literatur, und entschied sich anschließend für ein Zweitstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2020 wurde sie für ihr erstes Romanprojekt mit dem Bremer Nachwuchsstipendium ausgezeichnet; im Herbst 2024 erschien ihr Debütroman "Wie meine Familie das Sprechen lernte" dann bei Nagel und Kimche. Sie arbeitet und lebt mit ihrer Familie in Bremen.
Begründung der Jury
Projektstipendium
In ihrem Romanprojekt „Zweisein“ wendet sich die Autorin Leyla Bektaş mit wachem Blick dem Thema Mutterschaft zu und fokussiert dabei weibliche Grunderfahrungen wie Scham, Stigma und Schmerz. Ihre Protagonistin Alva schwört sich während der Geburt, dass sie die Wahrheit über das Gebären erzählen wird. Doch nach der schweren Geburt verschlägt es ihr erst einmal die Sprache. Vollkommen vereinnahmt und erschöpft von den Anforderungen als Mutter entfremdet sie sich nicht nur immer mehr von ihrem Partner Boris, sondern auch von sich selbst und ihren eigenen Idealen. Zugleich fragt sich Alva, wie sehr ihre eigene Familie ihr Bild von Weiblichkeit geprägt haben mag. In ihrer Erzählung variiert Bektaş gekonnt personale und Ich-Perspektive und ermöglicht dadurch einen Wechsel zwischen Nähe und Distanz zu ihrer glaubwürdig gezeichneten Hauptfigur, die unter ihren eigenen und gesellschaftlichen Ansprüchen leidet. Mit ihrem wachen Blick öffnet sie darüber hinaus Raum, um ehrlich über die Herausforderungen und Schattenseiten von Mutterschaft in einer angeblich aufgeklärten und gleichberechtigten Gesellschaft zu reflektieren.
Zur Jury 2025 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Erwin Miedtke (Vorstand Bremer Literaturkontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Geschäftsleitung virt. Literaturhaus), Sibille Hüholt (freie Dramaturgin & Buchhändlerin in der Buchhandlung Logbuch), Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).