Citra
Wasser umschlingt sie, berührt sie am ganzen Körper. So zärtlich. So hungrig.
Sie zieht an einer Lasche, lässt Luft aus ihrer Tarierweste strömen. Die austretenden Bläschen strudeln der Oberfläche entgegen, während sie selber tiefer sinkt. Licht bricht sich an der Meeresoberfläche, tanzt über die Rippelmarken im Sand. Sie gibt ihre senkrechte Haltung auf, legt sich ins Wasser und schwebt parallel zum Grund auf den Abhang zu. Ein unbedachter Flossenschlag wirbelt das Sediment auf, aber sie gleitet schon über die Kante des Riffs ins offene Meer hinaus. Unter ihr gähnt der blaue Abgrund, leer und scheinbar bodenlos.
Im scharfen Kontrast dazu steht der Unterwassergarten, der sich vor ihr an den Steilhang klammert. Steife orangene Arme strecken sich aus den Felsen, rote Netze wiegen sich sanft zwischen rosa Büscheln in der Strömung, warzige gelbe Hörner ragen dem offenen Meer entgegen. Jeder Millimeter ist bewuchert und wird hart umkämpft. Geräuschvoll strömt ihr Atem durch das Mundstück ihres Atemreglers und lässt einen Schwarm Juwelen-Fahnenbarsche aufstieben. Lautlos verschwinden die Fische im Riff.
Das Getöse des Landlebens versandet in der Strömung. An der Oberfläche zieht Citra Geräusche wie magnetisch an, alles raschelt, knistert, knackt und surrt. Vor allem aber Stimmen finden sie überall. Selbst nachts schreckt sie manchmal hoch, umschwirrt von den im Schlaf gemurmelten Sätzen der anderen. Besonders Dasha träumt mit ihrer Zunge. Tagsüber ist sie nicht mehr als ein Schatten in der Peripherie wissenschaftlicher Diskussionen und freundschaftlichem Geplänkel. Schweigsam existiert sie zwischen handgewaschenen Shorts und fauchenden Campingkochern und sieht ihnen zu, mit ihren großen, blauen Augen, als wäre alles um sie herum Teil einer Welt, an der sie nicht teilhat. Nachts aber brechen die Worte aus Dasha heraus, ein endloser Redefluss, der über sich selbst stolpert. Die Sätze schwirren zu Citra hinüber, aber in ihrem panischen Flattern verliert sich jeglicher Sinn. Trotzdem wacht Citra über Dashas Monologe, während die anderen weiterschlafen.
Nicht nur die Stille lockt Citra in den Bauch des Meeres. Schwebend vergisst sie die Oberfläche. Es ist leicht, eins mit dem Ozean zu werden, die familiären Bande sind immer noch da. Jenes Tier, das zuerst an Land kroch, trug das Meer in sich, eine pulsierende Suppe aus Chemikalien und ungezähmter Lebenslust, und gab es weiter an seine Nachkommen. Bis heute treiben wir alle als Embryonen in den Ozeanen unserer Mütter, bevor wir den Landgang wagen.
Livia Anne Hott, geboren 1991 in Saarbrücken, lebt in Bremen. 2015 erlangte sie einen B.A. in Kreativem Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und war währenddessen von 2014 bis 2015 Herausgeberin der Literaturzeitschrift BELLAtriste. Anschließend verbrachte sie zwei Jahre in Brighton, Großbritannien, und studierte im Anschluss ein Semester Physik an der Universität Leipzig.
2020 schloss sie einen B.Sc. in Biologie an der Universität Bremen ab, bevor sie 2021 einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt an der King Abdullah University of Science and Technology in Thuwal, Saudi-Arabien, absolvierte. 2025 schloss sie ihr Studium mit dem M.Sc. in Meeresbiologie ab.
Begründung der Jury
Nachwuchsstipendium
Im Zentrum von Livia Hotts Romanprojekt „Die Strömenden“ steht eine Expeditionsgruppe von vier Wissenschaftlerinnen auf einer tropischen Insel. Hier stoßen Naturgewalten auf innere Traumata und Gewalterfahrungen der Vergangenheit, die in Ausnahmesituationen wieder hervorbrechen. Die einzelnen Erzählstimmen der Individuen verbinden sich wie in einem Mosaik immer wieder zu einem Chor, der trotz der Unterschiedlichkeit der Erlebnisse, die gemeinsame Erfahrung des Frau-Seins spürbar macht. Der jungen Meeresbiologin Hott gelingt es auf dem Boden persönlicher Erfahrungen und Expertise, das wissenschaftliche Setting mit einer sinnlichen Wasserpoetik zu verknüpfen. Sie findet stimmige und poetische Bilder für die innere und äußere Welt, beschreibt die Atmosphäre in der Forschungsstation lebendig und arbeitet wissenschaftliche Details gekonnt ein. Die Jury war sowohl von der sprachlichen Finesse als auch der Motivik des Verschwindens unmittelbar überzeugt und hebt des Weiteren die gelungene Auseinandersetzung mit Umwelt- und Klimathemen besonders hervor.
Zur Jury 2025 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Erwin Miedtke (Vorstand Bremer Literaturkontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Geschäftsleitung virt. Literaturhaus), Sibille Hüholt (freie Dramaturgin & Buchhändlerin in der Buchhandlung Logbuch), Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).