Martina Rapp: ›Julie‹

Plötzlich bemerkte sie, dass ein Junge sie musterte. Er lehnte an einer Plakatwand auf der anderen Straßenseite. Er war ungefähr in ihrem Alter. Auch er schien weder zu den geschäftigen Passanten noch zu den amüsierbereiten Nachtschwärmern zu gehören. Wie lange hatte er sie schon beobachtet? Langsam kam er zu ihr herüber, quer durch den dichten Verkehr. Er ließ sie nicht aus den Augen. Als er fast vor ihr stand,wandte er den Blick dem Tabakladen zu. Er betrat ihn zielstrebig, taxierte die Regale, schaute nach links zum Tresen und als er kein Personal erblickte, griff er zu. Esme konnte sehen, wie er sich eine Handvoll bunter Schokoriegel in die Tasche steckte. Dann rannte er aus dem Laden.
Esme rannte, so schnell sie konnte, hinterher. Er schien sich in der Gegend auszukennen. Bei nächster Gelegenheit bog er in eine kleine Seitenstraße, überquerte einen Hinterhof und beide erreichten keuchend einen schmalen, kaum beleuchteten Platz, an den ein eingezäunter Spielplatz grenzte. Der Junge setzte sich auf eine Bank. Esme blieb wenige Meter neben ihm stehen.
Er leerte seine Taschen und breitete seine Schätze auf der Parkbank aus. Süßigkeiten, Zigaretten, Erdnüsse, Pistazien in Plastikfolie gewickelt.
Mit einer Handbewegung lud er sie ein, sich zu setzen.

Begründung der Jury

In ihrem Roman-Konzept Julie nimmt Martina Rapp deutlich Bezug auf brisante aktuelle Themen: Flucht und Fluchthelfer, Migration, Ärzte ohne Grenzen. Die Sprache ist realistisch und klar. Aus der Perspektive eines bosnischen Flüchtlingsmädchens und zweier Ärzte wird ein Handlungsverlauf angedeutet, der durch die verwickelten Beziehungen der Menschen untereinander und ihre verzweifelte Suche nach Verbundenheit in einer grenzenlosen Welt eine solche Spannung erzeugt, dass man gerne wissen möchte, wie es weiter geht.

Zur Jury 2017 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Stadtbibliothek Bremen), Jens-Ulrich Davids (Vorstand Bremer Literaturkontor / Autor) und Sabine Breitbach (Stipendiatin 2016).

Bild von Martina Rapp
© privat

Martina Rapp, geboren 1962 in Tübingen, studierte in Freiburg Germanistik und Romanistik. Nach einem Jahr in Paris kam sie 1994 nach Bremen, wo sie Logopädie und Pädagogik studierte und derzeit als Logopädin und Dozentin arbeitet. Martina Rapp veröffentlichte bereits diverse Fachtexte. Zudem schreibt sie seit vielen Jahren kürzere Prosa. Julie ist ihr erstes Roman-Projekt.