Porträts von sechs Autor*innen, die am Coronablog-Projekt teilnahmen

Corona-Blog: Frühjahr 2020

Porträt von Colin Böttger
© Victor Ströver / nordsign

Colin Böttger vom 11. bis 15. Mai 2020

Colin Böttger arbeitet als freier Schriftsteller, Schreibdozent und Tennis-Coach. Für seine drei bisher veröffentlichten Romane hat er verschiedene Preise erhalten. Bereits seit mehreren Jahren leitet er die Offene Schreibwerkstatt des Bremer Literaturkontors. Er ist Vater von zwei Söhnen und lebt in Bremen.

Zur Offenen Schreibwerkstatt mit Colin Böttger​​​​​​​

Tag 1, Montag, 11. Mai 2020
Liebe Freunde,

Da ich als zahnschwitzender Irrer gesehen werden müsste, wenn ich mich schriftlich hinsichtlich meiner Gefühle zu Corona und den Maßnahmen äußern würde, bin ich mal lieber nicht ganz so blöde. Es ist alles blöde, wie jeder weiß, und irgendwann habe ich mich tatsächlich an eine von mir längst vergessene halbfertige Erzählung erinnert, über ein Liebespaar, das auf einer Amerikareise zugrunde geht, und die einfach mal weitergeschrieben. Ich schreibe gerade an einem Kapitel, in dem das Paar auf eine Gruppe junger Neo-Hippies trifft.

So fängt es an …

Never trust a hippie but some parts of the hippie dream are true

„Bis zum White Mountain National Park sind es vielleicht hundert Meilen. Wir können da eine Nacht bleiben, dann weiter nach Norden durch Maine bis nach Kanada hinauf, würde ich sagen. Also, Neu-Frankreich. Auch wenn uns da keiner versteht. Was meinst du?“ Merle hebt die Schultern und sieht aus dem Fenster, und Simon versucht sich zu sagen, dass das eben ein Zeichen ihrer behaupteten Unkompliziertheit ist und nicht etwa Desinteresse an seinen langweiligen Reiseplänen. Er sagt all das, was er letzte Nacht über Howard und June gedacht hat. Merle findet schon, dass es eine Tragödie ist, wenn Liebende sterben, auch wenn sie alt sind und ewig lange zuvor glücklich lebten. Aber sie findet außerdem, dass es von allen Tragödien die kleinste ist.

„Meine erste Freundin, wenn du so willst, Hester, hatte einen ziemlichen Hippietouch und Dreadlocks. Wir waren in der zehnten Klasse. Ich war fünfzehn und sie schon sechzehn, und wir kamen auf Klassenfahrt zusammen.“

„Die, mit der du nur geknutscht hast, weil du dich nicht vor ihr ausziehen wolltest, weil du zurück mit der Pubertät warst?“ Merle grinst, und Simon grinst zurück. „Hab ich dir schon erzählt, oder sieht man mir das immer noch an? Egal. Jedenfalls, ich war kein Hippie, sondern ein Normalo, und ich war mit fünf weiteren Normalos auf einem Zimmer. An jedem langweiligen Abend nach Bettruhe benoteten wir das Aussehen aller Mädchen aus der Klasse. Alle fanden, dass Hester eine glatte sechs war und dass sie sich nicht wäscht und nach Schnodder riecht.“

„Und was hast du dazu gesagt?“

„Nichts. Ich hab ihr ne vier gegeben. Das war auffällig genug.“

„Verstehe, du Feigling.“ Merle stößt Simon an. „Und wie sexy findest du die Hippies da drüben? Glaubst du, die riechen nach Schnodder?“

„Ich finde die gut.“

Auf der Campsite gegenüber stehen zwei bunt bemalte Vans, aus denen vorhin lauter junge Hippies zusammenströmten. Jetzt sind allerdings gerade alle ausgeflogen.

Eigentlich hatten Simon und Merle die White Mountains bloß durchfahren wollen, aber dann haben sie die Hippie-Vans gesehen und sind ihnen aus Spaß gefolgt. Bis hierher auf den Cold River Campground, und jetzt sind sie Nachbarn.

„Ich glaube, dass alle Hippies aller Zeiten so ziemlich nach allem riechen, was menschliche Körper so hergeben“, sagt Simon, „aber auf eine irgendwie gute Weise.“

„Du meinst, es ist sexy, wenn speziell Hippies nach all ihren Körperflüssigkeiten riechen?“

„Nicht explizit sexy“, wehrt Simon vorsichtshalber ab, „aber eben auch nicht schlimm.“

„Wieso, weil sie so tolle und freie Menschen sind? Also, ich hab schon mal mit Hippies in einer WG gewohnt und niemand hat je abgewaschen oder das Klo geputzt. Findest du Hippies auch dann noch gut, wenn du wüsstest, dass ich lauter Kamasutra-Orgien mit ihnen hatte?“

Simon stutzt. „Was kommt denn jetzt noch?“ Fragt er mit Bangen.

„Nichts, war nur Quatsch. Erleichtert?“

„Etwas erleichtert. Aber lieber du und tausend Hippies als du und einer meiner Klassenkameraden aus der zehnten Klasse.“

„Finde ich auch“, sagt Merle.

„Und zwar deshalb, weil Hippies im Allgemeinen nicht dem düsteren Traum von Eroberung nachjagen. Es liegt am Hippietraum. Sie sind so … da sind sie ja wieder.“ Simon freut sich richtig, so wie als kleiner Junge im Kino, und der heiß ersehnte Film beginnt.

Aus dem Wald ist Gelächter zu hören und hell klingende junge Stimmen, und Sekunden später kommen die neuen Nachbarn zwischen den Bäumen hervor und laufen zu ihren Vans. Alle sieben Jungen und die vier Mädchen.

Sie haben bestimmt alle miteinander Sex, denkt Simon. Wenn Menschen Wesen sind, die entweder zu aggressiven Schimpansen oder Bonobos tendieren, dann ist klar, woher das Hippie-Gen kommt.

Seit die ersten Hippies vor einem halben Jahrhundert auf diesem Planeten aufschlugen, sind sie nie ganz wieder verschwunden. Und vielleicht bleiben sie ja für immer, ganz gleich, wohin sich der ganze große Rest der Welt dreht. Denn es ist etwas am Traum der Hippies – eine Sehnsucht, oder Wahrheit, oder Schönheit – das einfach nicht sterben will und wie ein Bazillus des Guten immer wieder neue Wirte findet.

„Und?“, fragt Merle. „Sollen wir jetzt gleich zu ihnen rübergehen?“

„Unbedingt.“

Von den jungen Hippies aus den Vans ist John der beste Sänger und Gitarrist, und als das Feuer richtig auflodert und schon Glut abgeworfen hat, spielt und singt nur noch er. Nirvana, die Lemonheads, Shins und Songs aus der Zeit der ersten Hippies.

Er kann jeden Song, den Merle hören will. Und Merle ist fasziniert und um so vieles begeisterter als bei Simons Vorlesen am Sebago Lake.

„Etwas von PJ Harvey wäre jetzt gut“, sagt Merle und John wirft den Kopf etwas zurück, und sein Haar – es ist so lang und dunkel wie Merles Haar – bewegt sich gutaussehend mit. John nickt und sagt mit sonorer Stimme: „Lass mich mal überlegen.“

Er muss nur kurz überlegen, um dann so gefühlvoll wie gekonnt eine ziemlich maskuline Version von „I can hardly wait“ zu bringen.

Merle wartet den Applaus der Gruppe ab, an dem Simon sich verhalten beteiligt, um nicht blöd aufzufallen, und als er verebbt, sagt sie nur: „Wow!“

Simon nickt dem Hippie neben ihm, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat, lächelnd zu.

John macht Pause. Er möchte kalifornischen Rotwein und einen Joint, von zarten Frauenhänden gedreht. Simon hat so seine Bedenken, aber er lächelt weiter. Ausgerechnet John. So wie John Travolta, John Wayne, John Rambo oder – was vielleicht am allerschlimmsten ist – Long John Silver. Wie kann ein John ein Hippie sein?

Simon denkt einmal mehr an Wiebke, das rothaarige Mädchen von seiner Schule, das er als Geliebte verpasst hat. Was hatte sie, die grundsätzlich die richtige Interpretation für jedes Phänomen der Wirklichkeit hatte, im entsprechenden Tonfall gesagt? Sie sagte: Die Hippiebewegung hat die Männer sexuell befreit, nicht die Frauen.

Simon sieht Merle an, die seinem Blick auszuweichen versucht. Vielleicht, weil sie frei sein möchte von ihm.

„Hier, für dich“, sagt das wahrscheinlich jüngste Mädchen, das sich als Dawn vorgestellt hat, und gibt den schnell und dabei kunstvoll gebauten Joint an Merle.

Merle zieht genussvoll und gibt ihn weiter an natürlich John, der zufrieden in den Sternenhimmel schaut. Natürlich fällt es Simon schwer, den Joint nicht als phallisches Symbol zu deuten. Er lehnt als Einziger ab, bleibt bei seinem Wein und schaut in die Runde.

Alle anderen jungen Typen hier sind weicher als John. Mehr so wie man sich Hippies wünscht und weniger wie hedonistische Surfer an den Küsten Kaliforniens oder Hawaiis. Zum Beispiel Pete – Poor Pete – wie er sich nannte. Und dann lachte er wie ein kleiner Strolch aus Schwarzweißfilmen von früher. Er ist der beste Freund der zwei Mischlingshunde, die immer um ihn herumstreichen, und jetzt liegen sie zusammengerollt auf seinen Füßen. Ein so netter Typ. Merle könnte mit ihm fast tun, was sie wollte, Simon wäre fast gar nicht böse, aber ihn hat Merle nicht angesehen. Oder eben nur freundlich angesehen. So wie sie die Mädchen hier angesehen hat oder deren Freunde.

Und keines der Mädchen hat Simon angesehen, außer der schweren Hippie-Lady mit dem massiven Körpergeruch neben ihm, die ihr Bein gegen seines presst.

Wenn Merle das sieht, denkt Simon, wird sie was John angeht keine Hemmungen mehr kennen. Aber er zieht sein Bein nicht zurück.

Megan heißt die schwere Hippie-Dame, und ihr Gesicht ist tatsächlich wie ein Pfannkuchen, aber auch irgendwie süß, wenn man so will.

Simon ist sich zwar nicht sicher ob er wirklich will, aber er ist trotzig entschlossen. Er lächelt ihr zu und sie strahlt zurück. Simon spürt den Druck ihres – man kann es gar nicht anders sagen – Fleisches und presst nun aktiv sein Bein gegen ihr viel dickeres Bein, das nachgibt und sich halb um seines legt.

Jetzt sieht Merle zu ihm hin und lächelt. Hohn und Spott liegen nicht darin, auch nichts Gönnerhaftes, sondern eine Freundlichkeit, die sie ihm selten schenkt. So wie man einem platonischen Freund zulächelt, auf den man sich stets verlassen kann. Oder ist es ein dankbares Lächeln, das so viel heißt wie: Lieb von dir, dass du das auf dich nimmst, damit ich die Party meines Lebens haben kann?

Es gibt viele weitere Oder, aber was es auch ist, Simon kann nichts davon gefallen. Er wirft Merle einen Blick zu. Er weiß nicht, wie er gucken soll und wie sein Blick ihm gerät. Vielleicht flackert darin ein bisschen Zorn und noch ein bisschen mehr Unsicherheit, aber ganz sicher liegt darin keine Überzeugungs- und so überhaupt keine Anziehungskraft.

Morgen mehr …

Tag 2, Dienstag, 12. Mai 2020
Und weiter…

Schließlich wendet sich Merle wieder John zu, als der seine Gitarre gestimmt hat und einen Nirvana-Song spielt. „I´m so happy cause today I found my friends,” singt er, aber kein bisschen so unschuldig und anrührend wie damals Kurt Cobain.

Was jetzt? Diesem John hinterhersteigen, wenn er in den Wald geht, um selbstverliebt gegen den größten Baum zu pissen, den er finden kann? Es wäre sicher nicht schwer, diesem Typen ein wenig Angst zu machen. Nur würde der Typ deswegen nicht aufhören Merle zu gefallen, und peinlich wäre es auch.

Simon mochte immer die Geschichte, in der der echte Kurt Cobain den ursprünglichen Nirvana-Drummer feuerte, weil der den Liebhaber seiner Freundin verprügelt hatte. Eine Mackerpose, die für eine Band wie Nirvana untragbar war. Simon mochte die Geschichte umso mehr, weil dem Blödmann durch sein Mackerverhalten ein Vermögen entging. Und niemand kennt heute seinen Namen.

John verprügeln geht also nicht, aber der Drang, so mackerhaft er auch sein mag, ist da. Und wahrscheinlich ist es weniger peinlich als hier bloß zu sitzen und so zu tun, als sei alles halb so wild. Oder vielleicht findet Merle ihn sogar sexy, wenn er John niederstreckt. Oder einfach nur armselig. Sicher ist nur, im Augenblick findet sie ganz allein John sexy und die softe aber durchdringende Männlichkeit seiner Stimme.

Simon denkt an alte Filmklamotten, in denen die Eifersüchtigen wütend und in unfreiwilliger Komik davonstapfen, wenn die Situation unerträglich wird. Auch diesen Drang gibt es, und Simon verspürt ihn unverkennbar und stark. Aber das geht natürlich auch nicht. Vielleicht würde eine unauffällige Flucht das augenblickliche Schamgefühl lindern, aber dafür käme es umso machtvoller und langanhaltender zurück.

Aber eigentlich muss er nichts tun, denn da ist ja noch Megan direkt neben ihm, deren Körper beharrlich und machtvoll gegen seinen drängt. Sie hat sich so unauffällig sie konnte in seine Richtung geneigt, ihre Schulter drückt schwer gegen seine, und ihre riesige Brust fällt auf seinen Unterarm. Der Schweißgeruch, den sie verströmt, ist überwältigend.

Jetzt stützt sie sich hinter ihm auf ihrem Arm ab und schiebt ihre Hand von hinten in seine Hose unter seinen Hintern, den er bereitwillig hebt. Ihre Hand arbeitet sich vor, bis ihr dicker Mittelfinger gegen seinen noch jungfräulichen Anus drückt, und für Simon fühlt sich das richtig an. Richtig gut sogar.

Soll John doch weiter singen und lass Merle ihn doch anschmachten. Er wird auf jeden Fall Dinge tun, die krasser sind als das, was Merle sich mit John vorstellen mag.

Diverse Songs und einige Joints später sind die jungen Hippies endlich auf die Idee gekommen, die alle lebenden und toten Hippies immer und in jedem Jahrzehnt ihres Daseins überkam. Sie sind nachts im Mondschein durch den Wald zum Fluss gelaufen, um nackt zu baden.

Alle jungen Hippies springen in kindlicher Freude in den Fluss, und Petes Hunde laufen aufgeregt bellend mit ihnen. Merle und John sind weniger kindlich. Sie gehen nebeneinander bis sie zur Hüfte im Wasser sind, dann tauchen sie gemeinsam ein, wobei ihre Hinterteile für einen Moment synchron aus dem Wasser ragen.

Nur Megan und Simon stehen noch einige Meter voneinander entfernt am Ufer. Merle und John tauchen gleichzeitig auf, lachen, dann schwimmt Merle so schnell sie kann zum anderen Ufer und John folgt natürlich so schnell er kann. Er folgt ihr an Land und hinter die Bäume, hinter denen Merle gerade verschwunden ist.

Der Mond scheint überall hin, besonders auf Megan, die sich ihrer ganz besonderen Nacktheit nicht schämt. Sie ist entweder sehr tapfer oder so sehr Hippie, dass alles Natürliche in irgendeiner Weise schön für sie ist. Sogar sie selbst, dabei würden sich alle Jungen und Männer auf diesem Planeten, die sie schön fänden, fragen, was wohl nicht mit ihnen stimmt.

Simon weiß genau, was mit ihm nicht stimmt. Er ist wütend, gedemütigt und will Rache. Eigentlich keine Gefühle, die zu sexueller Spannung führen, aber er sieht diese ungeheure Frau an und sein Schwanz reagiert.

„Warte noch“, sagt er, als Megan sich anschickt ins Wasser zu steigen. „Ich langweile mich im Wasser. Ich weiß eigentlich nie, was ich darin machen soll.“

Tag 3, Mittwoch, 13. Mai 2020
Und weiter…

„Du kannst alles darin machen was du willst.“ Sie macht einen weiteren Schritt Richtung Fluss, aber Simon ist gleich darauf bei ihr und nimmt ihre Hand. „Nein, ich will dich so, wie du jetzt bist“, sagt Simon. Megan schaut ihn fragend an, aber geschmeichelt ist sie auch, das ist sicher. Sie lässt sich von Simon vom Wasser wegziehen. „Was meinst du mit: so wie ich jetzt bin?“

Simon holt gespielt tief Luft und sagt: „Ich kann dich nicht so riechen und schmecken wie ich möchte, wenn du erst im Wasser warst.“

„Oh“, sagt Megan.

„Also, was sagst du? Macht es dir was aus?“

„Nein, wenn du es unbedingt willst, wenn es wichtig für dich ist, dann ist es schon okay.“ Sie nimmt ihre Kleider, dreht herum und stapft voran, zurück in den Wald, aus dem sie gekommen sind. Simon folgt ihr.

„Hier ist es gut“, hört er Megans Stimme aus dem Wald. Als Simon hinter die Bäume tritt, hat sie ihre Kleider im Moos ausgebreitet und sich darauf niedergelassen.

Simon geht zu ihr, sie fasst mit beiden Händen seine Hüften, zieht ihn zu sich heran, und es hat etwas Zeremonielles, wie sie ihn mit ihren Lippen umschließt, bis er in ihrem Mund explodiert. Simon wankt einen Schritt zurück. Er lächelt Megan freundlich an. „Jetzt will ich das bei dir machen.“ Er legt sich hin und schaut in den Nachthimmel. Noch sind da Baumkronen und Sterne, und es dauert, bis Megan sich aufgerichtet hat, aber schließlich steht sie da und verschluckt sogar das Mondlicht. Nicht, dass er es anders gewollt hätte, aber jetzt gibt es nur noch Schwärze, die sich nass und schwelend auf ihn herabsenkt.

Zuletzt kann Simon eine gefühlte Minute lang nicht atmen, und wie unter Wasser hört er Megans ebenso lang anhaltendes Aufschreien, dann verschwindet die Schwärze vor seinen Augen und Megan lässt sich neben ihm nieder.

„Das war schön“, sagt sie und streichelt seine Brust, über die Flüssigkeiten in seine Bauchkuhle laufen und dort eine Pfütze bilden.

Simon bemerkt erst jetzt, wie weich und zart ihre Stimme ist. Ist das wirklich ihre Stimme, oder ist es der Hippietraum selbst, der diesen Klang erzeugt? Oder muss man diese Süße und Sanftheit schon in sich haben, um für den Traum überhaupt empfänglich zu sein?

„Ich fand es auch schön“, sagt Simon und wundert sich über die Weichheit seiner eigenen Stimme. Sein Gesicht ist völlig von einem Film überzogen, sein Haar ist verklebt, alles genau so wie er es sich in seinem Rachedurst ausgemalt hatte, aber Megan hat recht, es war eher schön als geil und dreckig. Und der starke Geschmack in seinem Mund passt zum Mond und den Sternen über ihm, und in ein paar Stunden wird er zur aufgehenden Sonne passen. Simon will Megan dichter an sich heranziehen, aber das geht nicht so leicht wie mit Merle, sie muss ihm dabei sozusagen assistieren.

„Wie fühlst du dich jetzt?“, fragt sie.

„Gut“, sagt Simon, und es stimmt sogar. „Und du?“

„Sehr gut. Aber ich habe mich vorhin am Feuer schon gut gefühlt. Du warst wütend auf deine Freundin. Bist du immer noch wütend?“

„Im Moment kein bisschen mehr. Morgen vielleicht schon. Aber so waren immerhin wir zusammen.“

„Weil du wütend warst? Das wäre ein eher trauriger Grund für unser Zusammensein, findest du nicht?“

Irgendwann hat Simon mal gelesen, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist. Er will ehrlich sein zu Megan, aber nicht so ehrlich, dass es ihr weh tut. Er legt seine Hand auf ihre, die schwer auf seiner Brust liegt. „Ich finde schön, dass wir jetzt zusammen sind, aber ich hätte es nicht getan, wenn Merle nichts gemacht hätte. Mit niemandem.“

„Verstehe. Und willst du noch, dass Merle auf dich wütend ist?“

„Ich glaube, ich hätte es lieber, wenn sie nicht wütend auf mich ist.“ Er weiß selbst nicht, ob das auch nur ein bisschen stimmt. Er selbst fühlt keine Wut, sondern ist ganz gelassen und sogar ein klein wenig high, und das nicht nur weil seine übergroße Geliebte so viele Spuren auf ihm hinterlassen hat, wie er wollte. Er kann nur hoffen, dass Megan, die ihn ja durchschaut, nicht auf die Idee kommt, dass ihre vermeintliche Unattraktivität Teil seines Racheplans war, aber vielleicht kommt sie ja als Hippie nicht auf so krude Ideen, und dieser Teilaspekt bleibt sein schmutziges kleines Geheimnis.

Pete, Dawn und die Anderen sind noch immer am Flussufer. Simon kann nicht genau hören, was sie reden, aber ihre Stimmen liegen warm und harmonisch übereinander. Er würde gern mit Sicherheit wissen, ob sie so verschworen sind wie damals er und seine teilweise entschwundenen Kindheitsfreunde, oder eigentlich wie ungebundene Atome, die einfach nur in der gleichen Richtung durch den Kosmos treiben, weil ihre Stoßrichtung dieselbe war. Und es können beliebig viele hinzukommen, verloren gehen oder ausgetauscht werden. Vielleicht, denkt er mit Nietzsche und den Indianern, sind sie so egoistisch wie Herdentiere, die zwar miteinander ziehen, aber eigentlich hofft jedes Herdentier nur auf den Schutz der Herde und kümmert sich ansonsten nicht um die anderen Tiere. Es hofft bloß, dass das Tier neben ihm statt seiner gerissen wird und es selbst fliehen kann, weil die Raubtiere mit dem unglücklichen Artgenossen beschäftigt sind, das ihm diesen unfreiwilligen Dienst erwiesen hat.

Tag 4, Donnerstag, 14. Mai 2020
und weiter…

Andererseits hat Simon Filme von kämpfenden Zebras gesehen, die verletzte Tiere aus der Herde gegen Löwen verteidigen.

„Wollen wir zurück zu den anderen gehen?“ Megan küsst ihn auf den Mund und beginnt aufzustehen.

„Ja, möchtest du? Okay.“ Simon ist schneller auf den Beinen, hebt ihre Kleider auf und gibt sie ihr. Eigentlich hat er keine Lust zu gehen. Und schon gar nicht will er jetzt Merle treffen mit ihrem blöden John.

„Wie ist das eigentlich mit euch? Wollt ihr für immer Hippies bleiben und herumziehen? Oder wollt ihr zusammen für euch so etwas wie Eden finden und euch da niederlassen, wenn ihr zu alt für dieses Leben seid?“

„Du fragst dich: Wie lange kann man ein richtiger Hippie sein, bevor das hippiegerechte Eigenheim kommen muss?“ Megan zupft ihr Kleid zurecht. „Jetzt gerade ist mein Vertrauen ins Leben noch groß, und ich würde sagen, dass ich noch sehr lange so herumziehen möchte. Mit meinen Leuten, so wie du mit Merle zusammenbleiben willst, wie ich vermute.“

„Ja, das will ich wohl. Trotz allem.“ Er nimmt ihre Hand, sie gehen so zurück zum Flussufer, und zu seiner Erleichterung sind die Anderen gerade im Aufbruch, und von Merle und John ist nichts zu sehen.

„Wir gehen zurück“, ruft Dawn ihnen zu. Die Hunde stürmen heran, springen einmal an Megan empor und rennen zurück zu Pete.

„Bis gleich“, ruft Megan zurück, und alle winken und gehen weiter.

Simon zieht sich an und greift nach seinen Zigaretten. „Weißt du, es war ganz schön taktvoll von dir, dass du nicht zurückgefragt hast, ob Merle und ich überhaupt ein richtiges Paar sind.“

„Wieso, wegen John?“ Megan winkt lachend ab. „Das macht doch nur so viel mit euch, wie du daraus machst.“

„Ach ja? Klingt ja fast logisch und noch dazu ganz einfach. Es war aber Sex.“ Simon hat seine Zigarette heiß geraucht und tritt sie in den Sand. „Aber nochmal zu eurer Gruppe. Magst du jeden von euch? Ich meine, nicht als brothers and sisters, sondern so wie er oder sie ist? Jeder für sich?“

„Ja, jeden auf seine Art: Auch John, wenn du das wissen wolltest. Vielleicht sogar ganz besonders John.“ Sie lächelt.

Simon zieht kräftig an der nächsten Zigarette, aber das bewusste lange Ausatmen hilft überhaupt nicht gegen das Ziehen in der Magengegend. Er macht einen Schritt auf Megan zu und stoppt, weil er nicht sicher ist, ob er bedrohlich wirkt. Und das will er auf gar keinen Fall. Allerdings kann er nicht verhindern, dass ein Knurren in seiner Stimme liegt als aus ihm hervorbricht: „John ist keiner von euch. Jeder würde das sofort bemerken. Er ist nicht einmal ein Hippie, der mit euch träumt, sondern ein beschissenes Rolemodel, ein selbstverliebter blöder Macker, wie es ihn überall auf der Welt in jeder Szene gibt. Wenn ich mich frage, warum ein Typ wie der zu euch Hippies gestoßen ist, dann deshalb, weil er von einem Hippie, ganz anders als von einem Rapper, nichts zu befürchten hat, wenn er dessen Freundin knallt.“

„Aber du bist kein Hippie. Also wirst du dir das nicht gefallen lassen und ihm die Fresse polieren, oder wie ihr das bei euch nennt?“ Megans Stimme hat einen lauernden und besorgten Unterton, aber die Sanftheit ist noch immer da. Ganz im Gegensatz zu Simons Gebell, das noch immer peinlich unangenehm nachklingt.

„Natürlich nicht“, sagt er so milde wie er kann, schaut zu Boden und denkt einmal mehr an Wiebke Harms, seine verpasste rothaarige Geliebte, und ihre These von der sexuellen Befreiung der Männer durch das Hippietum.

Vielleicht, kommt ihm in den Sinn, sind Hippiemänner ja einfach nur feiger als die anderen heteronormativen Männer aus der normalen Welt. Sie ficken sich durch alle Weibchen des Rudels und darüber hinaus, und geben einander dann das Peacezeichen, um die eigentlich vorgesehenen Revierkämpfe nicht austragen zu müssen.

„Komm, gehen wir zurück“, sagt Megan und will ihn mit sich ziehen. Simon lässt ihre Hand nicht los, rührt sich aber auch nicht vom Fleck, was einen optisch unauffälligen aber festen Karatestand erfordert.

Megan lässt los. „Du willst jetzt aber nicht Merle und John abfangen, oder? Er ist kein bisschen so, wie du es dir ausmalst.“

„Und ich bin kein Axtmörder. Ich will jetzt einfach nicht zurück zu den anderen. Und nicht weil ich sie nicht mag oder sowas. Wenn du dir Sorgen machst, dass ich John im Fluss ertränke, dann bleib doch einfach. Ich bin jetzt gern mit dir zusammen, aber ich will nicht zurück ans Feuer.“

„Klingt okay für mich. Und zu dem, was du vorhin gesagt hast, von wegen taktvoll. Ich finde übrigens schon, dass ihr ein richtiges Paar seid, du und Merle. Sogar ein sehr schönes.“

„Ja, findest du? Schöner als du und ich. Oder als Merle und John? Oder ist jedes Liebespaar schön?“

„Ja, jedes echte Liebespaar ist schön.“ Megan gibt ihm einen Klaps auf den Hintern, der ihn nach vorn Richtung Fluss taumeln lässt, mit dem linken Fuß ins Wasser.

„Liebe macht schön. Und ihr seid ein schönes Paar. Das ist etwas Besonderes. Aber nicht weil ihr so besonders seid, verstehst du? Ihr seid nicht das eine, alles überstrahlende Herrschaftspaar. Oder, hey Sportler, willst du mit deiner Braut die Nummer eins sein und alle Liebesturniere gewinnen?“

Ich habe einen Nassen, denkt Simon. Er tritt mit dem linken Fuß auf, und aus dem Schuh schmatzt es. Bestimmt hatte er schon anderthalb Jahrzehnte lang keinen Nassen mehr, aber es ist ein angenehm vertrautes Gefühl. Er öffnet die Arme ganz weit und legt sie so weit er kann um Megan. „Ich hoffe schon mein ganzes Leben lang, dass ich nicht so blöd bin.“

“Sei einfach nicht blöd“, sagt Megan noch eine Spur weicher und wärmer als sonst. „Und komm bald nach.“

„Meine Schwester hat gesagt, dass ich dich wahrscheinlich hier finden würde.“ Es ist Johns softe und dabei durchdringend männliche Stimme in seinem Rücken. Simon hat ihn kommen gehört, ist aber reglos sitzengeblieben und hat weiter auf den Fluss und die Bäume dahinter gestarrt, deren Wipfel in leichter Bewegung sind. Genau die Bäume, unter denen Merle freien Hippiesex hatte.

Simon weiß selbst am besten, dass die Geste unecht ist und er den stolzen Indianer spielt und vielleicht noch mehr den durch den wilden Westen streifenden Shaolin Caine aus der Fernsehserie von früher, der immer alles richtig machte. Allerdings war Caine, so weise und friedfertig er auch war, in jeder Folge dazu gezwungen, seine allen überlegenen Kampfkünste zu demonstrieren.

Simon hat drei hastige Zigaretten geraucht, nachdem Megan gegangen war, dann sah er Merle und John am anderen Flussufer. Während sie durch den Fluss schwammen, robbte er rückwärts hinter die erste Baumreihe zurück und dachte wütend: Diese Flecken kriegst du nicht mit Wasser weg. Er sah zu, wie sie einander abrieben, miteinander herumalberten, sich endlich anzogen und schließlich Richtung Campground gingen. Erst wollte er hinterherschleichen, aber dann kehrte er bloß zum Fluss zurück, um abzuwarten ob Merle kommen würde.

„Was tust du hier? Warum kommst du nicht zu uns?“ Jetzt ist da auch noch Johns Hand, die sich freundschaftlich auf seine Schulter legt. Du traust dich ja was, denkt Simon. Ich könnte diese Hand nehmen und damit machen, was ich wollte.

Simon fährt in einer plötzlichen Bewegung empor.

„Okay, Mann, das war schnell“, sagt John, der ein paar Schritte zurückgewichen ist und sich um eine beschwichtigende Haltung bemüht. Simon ist damit zufrieden. Er lässt noch ein paar Sekunden vergehen, dann sagt er so soft er kann: „Ich wollte gerade zu euch, aber jetzt setz du dich doch zu mir.“

„Okay.“ John setzt sich und wartet, ein bisschen so wie ein Schüler ohne Hausaufgaben vor Unterrichtsbeginn.

Simon setzt sich ihm gegenüber. „Wer ist denn deine Schwester?“, fragt er und beugt sich etwas vor.

„Meine Schwester Megan. Ich glaube, in ganz bestimmter Weise kennst du sie besser als ich. Auch wenn ich sie schon mein ganzes Leben kenne.“

„Deine Schwester Megan. Meinst du eine von deinen vielen Schwestern, weil ihr doch alle Brüder und Schwestern seid?“

„Nein, Megan ist meine große Schwester. Meine richtige Schwester, oder meine leibliche Schwester, um es ganz deutlich zu machen. Und ganz sicher ist sie meine über alles geliebte Schwester, die alle Schläge meines Stiefvaters auf sich genommen hat, die eigentlich für mich bestimmt waren.“

„Oh, verstehe.“ Simon lässt den Mund offen stehen, bis sich davor eine Blase bildet, die „Plopp“ macht. Seine Feindseligkeit verliert sich, denn auf irgendeine Weise gleicht das die Sache aus. Zumindest, wenn man einer ganz bestimmten kruden Männerlogik folgt, die er zwar immer gehasst hat, aber die ganz offensichtlich bestimmend für ihn ist, trotz Curt Cobain, Alternativ Rock und Philosophiestudium.

„Magst du meine Schwester?“ John fragt das völlig offenherzig, ohne jeden Unterton, höchstens, dass so etwas wie Vertrauen mitschwingt. Überhaupt wirkt er kein bisschen mehr so selbstverliebt wie vorhin am Lagerfeuer, als er all die Songs raushaute, und vielleicht war es es auch vorhin nicht, und der in seiner Eitelkeit verletzte Freund Merles hat alles hässlich verzerrt wahrgenommen. Oder John ist jetzt einfach nur unsicher, ob dieser Typ aus Deutschland, der stumpf und stoisch am Flussufer vor sich hinbrütete, nicht doch noch um sich schlägt wie seine antiken oder auch moderneren Vorfahren.

„Ja, schon“, sagt Simon. „Doch irgendwie schon ganz schön.“

„Das kann keiner besser verstehen als ich“, sagt John lächelnd.

Vielleicht ist er auf eine ähnliche Weise erleichtert wie Simon, oder dieses archaische Erbe drückt ihn einfach weniger, oder er kennt dieses Gift gar nicht, oder der Hippietraum war stark genug für eine Art von Exorzismus.

Tag 5, Freitag, 15. Mai 2020
und die letzte Nacht.… 

„Was ist mit dir und Merle? Auf eine gewisse Weise kennst du sie ja nun so gut wie ich. Magst du sie?“

John zögert. „Ich finde sie sehr aufregend und inspirierend, und sie hat bestimmt eine weiche Seite, aber … tut mir leid, ich fang nochmal von vorne an. Weißt du, Megan und Merle haben mir beide gesagt, du würdest mich im Fluss ertränken, wenn ich was Falsches sage, und es klang, als wäre es nicht nur ein Witz.“

„Schon gut, ich werde nicht Megans Bruder umbringen, und jede andere Szene wie zum Beispiel, dass ich dich schlage, wäre mir zu peinlich. Also sag schon was du wolltest.“ 

„Okay, ich glaube das mal.“ John holt tief Luft. Er macht das so unauffällig wie möglich, und sein Blick ist offen, freundlich und besorgt. „Weißt du, ich hab gefühlt wie schnell es geht, ihr gefallen zu wollen. Sogar ihr zu verfallen. Und ich bin froh, dass es ganz klar ist, dass sie mit dir weiterziehen will und dich behalten will. Ihr werdet weiterziehen, und nicht sie und ich. Und wenn es dich nicht gäbe und sie alleine hier bei uns aufgetaucht wäre, ich würde alles versuchen, ihr nicht zu verfallen. Ich meine, du weißt es viel besser und fühlst unendlich viel stärker für sie als ich. Du berührst sie und fühlst: Das ist mehr als die große Liebe, das ist das wahre nackte Leben. Und du willst das alles, aber es ist so viel größer als du. Du kannst es nicht fassen, schon gar nicht festhalten. Ich meine, du liebst sie und wirst mit ihr ziehen, aber vielleicht wäre es besser für dich, du würdest Megan lieben und bei uns bleiben. Aber das ist nur so ein Gefühl von mir, und vielleicht ist es ja auch verrückt, und du kannst den Blödsinn vergessen, und Merle ist das größte Glück, das man haben kann.“

John steht auf und kramt in seiner Hosentasche. „Sorry“, sagt er und zieht ein Handy hervor. „Hey, große Schwester, ich sitze hier am Fluss mit deinem Lover, und es ist alles cool … nein, er hat mich verschont. Er ist sehr cool, und wir kommen gleich.“ John steckt das Handy wieder weg und reicht Simon die Hand, um ihn emporzuziehen.

„Ihr und Handys?“

„Na klar, für den Notfall.“ 

„Wir haben extra keine mit.“

„Echt nicht? Jesus … wollen wir gehen?“

„Geh ruhig. Ist ja jetzt alles cool. Ich bleibe noch hier.“

John lässt den ausgestreckten Arm sinken und nickt. „Dachte ich mir schon. Okay, aber pass gut auf dich auf, versprochen?“ 

Pass gut auf sie auf, sagte Vince eindringlich und sein trauriger Blick, den Simon vom Mond her zu fühlen glaubt, war nicht ohne Vertrauen. Vince, der weiter im Süden seine Kreise zieht, immer seine verlorene Tochter vor Augen, für die er nichts mehr tun kann. 

Simon ist ein paar hundert Meter flussaufwärts gegangen, bis er eine Stelle fand, an der es viele flache Steine gab, die er bis zum anderen Ufer springen lassen konnte. Break on through to the other side, denkt er. Einer nach dem anderen auf die rettende Seite. 

Auf Merle aufpassen und zugleich auf sich selbst war vielleicht ein zu großer Widerspruch, um ihn zu leben. Merkwürdig, diese lebensklugen, pragmatischen Ratschläge von jemandem wie John. Wirf deine Liebe woanders hin, sonst verglühst du. War das der zentrale Vorschlag? 

Oder gerade gar nicht merkwürdig bei jemandem wie John, der vorgibt, ein Hippie zu sein, dabei nichts so richtig liebt, sondern ganz vieles einfach nur ganz geil findet. Vielleicht mit Ausnahme seiner Schwester Megan. 

Simon findet einen nahezu perfekten Stein, aber er ist missmutig und wirft ihn hastig und in einem schlechten Winkel, so dass der Stein einfach nur ins Wasser schießt und still versinkt. 

Es gibt da einen alten japanischen Haiku, in dem es heißt: In den alten Teich. Fällt ein Frosch. Plumps. Und Simon kann sich auch denken was Castanedas Schamane mit milder Strenge zu ihm gesagt und ihn dazu mit seinen Habichtaugen durchleuchtet hätte: Du bist wütend und fühlst dich deshalb im Recht, und du nimmst dich so verdammt wichtig. 

Es stimmt schon, beschließt Simon. Der Gedanke, dass John nichts weiter ist als ein oberflächlicher Partylöwe, der zufällig auf einer Hippieparty landete, hat mit seinem übersteigerten Gefühl der eigenen Wichtigkeit zu tun. Es ist ein Gedanke, der aufplustert, hässlich macht, und wahrscheinlich sogar völliger Blödsinn ist.

Dieser John, obwohl jünger als er, hatte ehrlich besorgt geklungen. Sogar so als wüsste er, wovon er sprach. Und er klang wie ein Freund. 

Oder doch nicht, fällt es Simon an, du willst doch nur deine kleine Seele beruhigen, indem du dich dem Aggressor an den Hals schmeißt. 

Simon findet einen weiteren flachen Stein und wirft ihn. Er kennt diese gedanklichen Querschläger, die ihm die Wirklichkeit so ungenießbar machen sollen wie nur möglich. Sie kommen wie ein Schwarm Hornissen durch ein offen gelassenes Fenster, und sie klingen auch so. Simon weiß auch, woher sie kommen. Es sind Stimmen, die erstmals kurz nach dem Abitur in ihm laut wurden, als die Visionen bezüglich seines eigenen Lebens ausblieben und er nach einer Reise durch Indianerland sein Philosophiestudium begann. Sie sagen: Du bist ein Bürgerkind, dem es immer gut ging. Was du tust und denkst, hat keinen Wert, weil du nie für etwas kämpfen musstest. Alles was du je erreichen wirst, wird auch nur ein Geschenk sein. Auf dich allein gestellt wirst du immer versagen, und wenn du nicht versagst, hattest du Hilfe, die du auch nicht verdient hast. 

Alles Gedanken, die Hand in Hand gehen mit der gefühlten Geringschätzung, die Merle ihm manchmal entgegenbringt. 

Aber andererseits, was könnte eine von so heftigen Wesen bewohnte Frau wie Merle dazu treiben, mit jemandem zusammen zu sein, den sie verachtet? Nichts vielleicht. Wahrscheinlich nichts, oder ein Abgrund in ihr, den er noch nicht kennt. Aber Spekulationen ab ins Feuer, sagte David Hume schon vor Jahrhunderten, und Simon steckt sich eine Zigarette an und dann noch eine und stellt fest, dass ihn nun keine kleinen Krämpfe mehr schütteln. Verfluchte Hippies, denkt er noch belustigt, und vor ihm ist der Fluss und dahinter große Waldgebiete, die er noch nicht kennt, so wie er den allergrößten Teil der Welt noch nicht kennt. Riesige Wälder, die nach Norden hin bis zur Hudson Bay reichen und still ruhen wie vielleicht große unentdeckte Räume seiner selbst.

Er wird das Versprechen halten, das er Vince gegeben hat. Vince, dessen Umlaufbahn sie verlassen haben. Vince, der Merles Verletzlichkeit sah und Vertrauen zu ihm hatte. 

Und was kennt dagegen John schon von Merle außer dem Duft ihrer Möse an einem bestimmten Tag, womit er kurzzeitig unverschämtes Glück hatte? Und vielleicht, höchstwahrscheinlich leider, hatte er noch Glück mit ein oder zwei Dingen, die Merle mit ihm angestellt hat. Na und? Schon sehr bald wird er sich nicht mehr so richtig daran erinnern. 

Aber einen weiteren Stich gibt es Simon doch. Er selbst hat immer mehr in die Frauen und Mädchen investiert, die er gekannt hatte. Er hat nie vergessen, wovon sie nachts träumten, aber ihre Düfte, so zentral sie für ihn auch waren, und das waren sie, sind nicht mehr klar in seinen Erinnerungen. 

Aber soll das jetzt irgendwie tröstlich für ihn sein? Er ist ja nicht John. Vielleicht erinnert John sich nur an die Düfte und an das, was die dazugehörigen Frauen mit ihm anstellten. 

Und was weiß der Typ dann nicht? Was absolute Verbundenheit ist und das eigene Leben füreinander in die Waagschale werfen und die nicht endende Liebe? 

Simon geht auf der Suche nach neuen flachen Steinen am Flussufer auf und ab und weiß nicht so recht. Howard und June hatten all das, aber sind sie jetzt, am Ende, besser dran als John es sein wird, für den Fall, dass er die ganze Sache auch weiterhin lässt? So wie Hermann Hesses Goldmund, der sein Leben lang auf Wanderschaft ist und Glücksfragmente sammelt, aber sie sind am Ende wie bunte Mosaiksteine, die nichts ergeben, die sich zu keinem Muster fügen, zu keiner Geschichte, die einen Sinn ergibt. Und doch hat Hesse so viel lieber über Goldmund geschrieben als über die Sesshaften und Schätze Bewahrenden, über die letztendlich ja auch Pest und Tod hinwegraste. 

Wusste der sterbende Goldmund, dass er jede Menge Schönheit berührt und gekostet hatte? Aber wenn Goldmund dankbar starb – Simon weiß es nicht mehr – dann heißt das auch nur, dass Hesse seinen Liebling nicht ins Leere laufen lassen wollte. Der wunderschöne Goldmund, der Suchende und Liebhaber, der alle großen Gefühle kannte und tiefgründig war, wie ein Mensch es nur sein konnte. 

Wenn John so wäre wie Goldmund, gäbe es keine Schwierigkeiten. Simon würde Merle Goldmund gönnen und Goldmund Merle, gar kein Problem. 

Aber John ist vielleicht doch in erster Linie ein Lebemann in Hippiekostümierung, der stumpf und tough genug ist, seinem neben ihm sitzenden Tod auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Es ist okay, nimm mich mit und, danke Gott, es war wirkliche eine Riesenparty, die du für mich geschmissen hast.

Und wie abgeklärt wird dagegen Howard sein, wenn er aus der Symbiose herausgerissen wurde? Und wird er dankbar sein für all die Jahre der Liebe, wenn sie unwiederbringlich vorbei sind? Soll er Junes Geist lieben, den er sich selbst herbeiphantasiert? 

„Simon!“ Das war Merles Stimme, etwa von dort, wo die Hippies vorhin ins Wasser gehüpft sind. Dann rufen auch die anderen nach ihm.

„Ich bin hier“, ruft Simon zurück, weil er nicht beleidigt oder neurotisch erscheinen will. „Ich komme zu euch.“

Ich komme zu euch … hm … Morgen beginnt wieder ein Kinderwochenende ohne Kinder, denn Corona ist ein Verbündeter meiner Ex, und es sieht so aus, als würde jeder Maskenträger ihr recht geben … 

Es heißt ja in vielen Büchern, Filmen und Serien, dass man sehr auf der Hut sein sollte, wenn Begriffe wie “Solidarität” und “Verantwortung” im Umlauf sind, aber eine glaubhafte Verschwörungstheorie finde ich auch nicht. 


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