Jörg Kasimir: ›Ruinös‹

War zuerst die Backstube weg oder war alles vorbei, als die Kirchturmglocke nicht mehr erneuert wurde? Schwer zu sagen, sicher ist aber, dass der Strom im Dorf immer häufiger ausfiel, spätestens das war der Weckruf, zu gehen. Das Postamt war vor drei Jahren geschlossen worden. Das hätte schon früher passieren können, aber das nunmehr auch aufgelöste Büro für Abwicklungen aller öffentlichen Arten tat sich schwer mit dem alten Müll, alles keine einfache Frage der Entsorgung!

Irgendwann begann man, das Amt vollständig mit Brettern zu vernageln, da war schon alles zugewachsen mit Kletterpflanzen. Schon kurze Zeit danach konnte sich niemand mehr an das alte Postamt erinnern.

An dem Tag, als Eggert mit der Matratze unterm Arm den Bäckerberg hinunterging, kam ihm der Ortsvorsteher entgegen und fluchte:

„Hey Esel, hast du den Wicht von der Bonne gesehen? Der hat unser Ortsschild weggenommen und ein eigenes aufgestellt.“

„Was steht denn drauf?“

„Tür zu!“

Der Ortsvorsteher war der letzte, der den Esel sah. Der Mann würde sich aber nicht mehr an ihn erinnern müssen, denn nur eine Woche später verschwand er nach Berlin, wie alle anderen auch. Auch die hundert im Dorf Verbliebenen vermissten den Esel nicht, denn man ging davon aus, dass auch er sich aus dem Staub gemacht hatte. Aber er stieg durch ein Loch im Hintereingang des alten Postamtes, nagelte es wieder zu, ließ nur so viel Platz, wie das Essen und Trinken seiner Schwester brauchte, um hineinzugelangen, und betrat den Keller, um das Haus nicht mehr zu verlassen. In dem Augenblick, als der letzte Postsekretär es sich zum ersten Mal auf der Matratze bequem machte, wusste er, was man gemeinhin mit dem Wort Glück meinen könnte. Es mochte diese Ruhe sein, die er jetzt empfand. Sie konnten krakeelen, wie es mit ihren heiseren Stimmen noch möglich war, er würde es nicht mehr hören müssen. Auch das Licht drang nur noch durch einige Ritzen im Holz. Die Fenster waren schon zugewachsen. Er musste sich an den Geruch des Moders und der Fäulnis gewöhnen, der grob und tief war, aber er würde lernen, aus Gegorenem Süßes zu schmecken.

Bild von Jörg Kasimir
© privat

Jörg Kasimir, 1964 in Wolfenbüttel geboren, hat zunächst als Verlagskaufmann gearbeitet, später dann an der Universität Bremen Kulturwissenschaften und Philosophie studiert. Nach dem Studium war er an der Planung und Durchführung diverser Kunst- und Kulturprojekte in Bremen beteiligt, u.a. für die Schwankhalle. Für die Städtische Galerie hat er im Bereich Ausstellungsorganisation gearbeitet. Seit 2013 ist er zudem im sozialen Bereich tätig. Kasimir schreibt Erzählungen und Essays sowie Beiträge für Kunstkataloge und Ausstellungen.

Begründung der Jury

Aus einem Buchprojekt mit 6 Erzählungen über verlassene Orte legt Jörg Kasimir Ruinös vor. In einem Ort nahe der polnischen Grenze wird nach der Wende ein Postamt geschlossen und dann sich selbst überlassen. Der letzte verbliebene Posthauptsekretär beschließt, sich in sein Postamt zu begeben und mit ihm zusammen den endgültigen Verfall zu leben. Im Laufe der Jahre lösen sich beide auf. Ihr zu Schutt- und Aschewerden schlingt sich ineinander. Das beschreibt der Autor als Symphonie des Verfalls, die er mit organischen Sprachtönen und natürlichen Metaphern instrumentiert.


Zur Jury 2018 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Bernd Gosau (Freier Lektor) und Regina Weber (Bremer Literaturkontor / Redakteurin, Lektorin).