Donka Dimova – Auszug aus dem Prosagedicht ›Mehrfamilienhaus ohne Aussicht‹

– Randleben –
1.
Aslan wird ein Haus bauen
mit zwei Stockwerken und einem Balkon,
mit einem spitzen Dach und groß wird es sein.
Er wird die Nachbarn neidisch machen,
den Schmutz des Vergangenen wegwischen,
das Medikament für Mutter kaufen,
drei jüngere Geschwister,
wird er satt bekommen.

Aslan sucht das Geld,
sucht das Glück im fremden Land.
Er weiß dort lebt man gut,
dort hat man alles.

Mit dem Bus kommt er an.
28 Stunden, 3 Pausen, 4 Grenzkontrollen,
der Sitznachbar trinkt Schnaps,
der Fahrer raucht, ein Kind kotzt,
Aslan hatte auch
Bauchkrämpfe,
Wolkenträume und
Rauschwünsche,
Jetzt hat er nur eins – Zuversicht.

Alles wird gut, keine Sorge.
Auf den Knien die Hände zusammengefaltet,
die Hände, die sein Brot verdienen werden,
die ein neues Haus bauen werden.

Der Bus hält auf dem Aldi-Parkplatz,
immer sonntags steigen hier 20 Menschen aus,
viele Taschen und viele Träume.
Die Armut und ein bisschen Stolz
tragen sie bei sich
und lächeln.

Aslan lächelt auch, er weiß
hinter Aldi am Ende der Straße
ist das Haus der Bulgaren.

2.
An den Briefkästen sind viele Geschichten
schon durchgestrichen und neubeklebt,
manche Chancen abgekratzt,
verrostet die Wünsche,
Amtsbriefe und Lebens-über-forderungen
verbiegen die Türen,
die Möglichkeiten bleiben stecken
oder gehen verloren wie kleine Schlüssel.

Das Haus hat 5 Stockwerke und 2 Eingänge,
aber keinen Platz für dich, Aslan.

Nicht im Keller,
wo die Familie mit den drei Kindern wohnt.
Dort schlafen die Asseln wie Erinnerungen
unter dem dünnen Boden.
Wecke sie nicht, sie erschrecken die Kinder.

[...]

Mit so viel Hoffnung bist du gekommen,
schwer ist sie zu tragen –
einen Koffer und zwei Rucksäcke
und das große Versprechen – Arbeit und Lohn.

Porträt von Donka Dimova
© Julian Elbers

Donka Dimova ist 1986 in Burgas, Bulgarien geboren. Die Poesie begeistert und beschäftigt sie seit ihrem frühen Schulalter. Sie veröffentlicht in Sammelbändern, Zeitschriften und Anthologien. Sie studierte Politikwissenschaft und Europäische Studien in Bremen und Hannover und arbeitet seitdem mit Menschen in schwierigen Lebenslagen. Im Jahr 2014 kam ihr erster Poesieband Übersetzung des Alltags in Bulgarien heraus. Seit 2016 leitet und begleitet sie künstlerisch-pädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche nach dem eigenen Konzept "Spiele mit Sprache". Sie übersetzt Poesie auf Deutsch und Bulgarisch.

Zum Profil der Autorin

 


Begründung der Jury

Nachwuchsstipendium

Aktuell leben etwa 9000 Bulgar*innen in Bremen. Sie sind in die Hansestadt gezogen, um Geld zu verdienen, um ihren Kindern eine gute Zukunft zu sichern oder einfach nur, weil sie das Leben im Ausland ausprobieren wollen – oder sich verliebt haben. Doch in der Öffentlichkeit ist ihre Lebensrealität kaum sichtbar. Wenig wird über das, was im Inneren der bulgarischen Community passiert, gesprochen oder geschrieben. Dem möchte Donka Dimova mit ihrem Projekt „Mehrfamilienhaus ohne Aussicht“ entgegenwirken.
In Anklang an Aras Ören, der in seinen Poemen die in Kreuzberg lebenden Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei beleuchtet, wirft Dimova den Blick auf die bulgarische Diasporagruppe in Gröpelingen, dabei wendet sie sich vor allem den Arbeitsmigrant*innen zu, die der türkisch-bulgarischen Minderheit angehören. Deren unterschiedliche Lebenswege, Wünsche, Ängste und die ernüchternde Realität des Ankommens beleuchtet sie anhand einzelner Figuren, die alle unter einem Dach in einem Mehrfamilienhaus leben, und wählt dafür die Form des Prosagedichts.
In einer prägnanten und kraftvollen, poetischen Sprache verleiht Dimova ihren Figuren eine Stimme, ohne ins Allgemeine oder Klischeehafte abzurutschen. Mit wenigen Zeilen entfaltet sie plastisch und eindringlich ganze Lebensgeschichten und -entwürfe, ihre Abwege, Abzweigungen und Abweichungen. So entsteht ein facettenreicher Kosmos, der sich aus einzelnen Biografien zusammensetzt, die Dimova poetisch „protokolliert“ – sehr persönlich und zugleich politisch.
Das Thema, die Charakterzeichnungen und der Sound der zehnseitigen Textprobe haben die Jury derart gepackt und neugierig gemacht auf den gesamten Text, dass sie sich entschieden hat, dieses Projekt auszuzeichnen. Auch in der Überzeugung, dass „Mehrfamilienhaus ohne Aussicht“ über die zehn Seiten hinaus zu beeindrucken vermag. In diesem Sinne gratuliert die Jury der Preisträgerin von Herzen.

Zur Jury 2022 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Sven Odens (Geschäftsführer Buchhandlung Buntentor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus) und Leyla Bektaş (Freie Autorin & Stipendiatin 2020).