Laura Müller-Hennig: ›Die Oma im Baum‹

Ich träume, ich bin wieder in der Wohnung, in der ich meine ersten Jahre verbracht habe. Alle Möbel sind noch da. Es ist ein lauer Sommerabend, durch die Fenster scheint ein mildes Licht herein. In den Regalen im Wohnzimmer einzelne, vergessene Taschenbücher mit Eselsohren. Leere  Gläser für Tuschwasser mit getrockneter Farbe an den Rändern. Und tote Zimmerpflanzen, deren Blätter grau sind und bröseln, wenn ich sie berühre.  Nur eine einzige hat sich wundersamerweise am Leben erhalten, hat sich abwärts gerankt und umschlingt nun die Regalfächer unter sich, jedes Blatt eine kleine gierige Hand. Da ist noch der von Oma geerbte Lehnsessel, mit seinem seidig dünn gewebten Überzug, der genau an der Stelle durchgewetzt ist, wo die Hände aufliegen, wenn man sitzt. Hier lagen Omas Hände. Die meiner Mutter. Meine. Ich bin auf dem Sessel herumgeklettert und habe Figuren auf der Sitzfläche platziert, habe mich davorgekniet und mit ihnen Theater gespielt. Der Sessel war Bühne für Dramen, Märchen und Kriege. Wenn ich abends ins Wohnzimmer kam, weil ich wieder einmal nicht schlafen konnte, saß meine Mutter in ihm, die Füße hochgenommen, die Beine angewinkelt, und hat ferngesehen, hat manchmal gesagt „Es läuft ein guter Film“, und ich durfte auf ihren Schoß klettern, um ein paar Minuten mitzuschauen. Als wir noch klein genug waren, passte ich zu zweit mit Esra auf die Sitzfläche. Ich erinnere mich, wie wir einmal nebeneinander ein wenig eingequetscht zwischen den Lehnen saßen, meine Mutter machte ein Foto von uns, wir trugen wild zusammengestellte Kostüme aus Tüchern meiner Oma, mit denen wir uns umwickelt hatten. Aber Esra ist nicht mehr da. Ich blicke wieder in den Raum hinein. Die Möbel sind mit Spinnweben überzogen, als hätten die Spinnen für jedes Stück vergangene Zeit ein Stück Faden gewebt. Es ist still. Das gesamte Mietshaus ist nicht mehr bewohnt, seitdem wir ausgezogen sind. Ich bemerke nun, dass der Raum größer wird, je länger ich hier stehe und mich umschaue. Die Wände wachsen in die Höhe, das Wohnzimmer dehnt sich zu einer Halle aus. Ich weiß auf einmal, ich muss mich beeilen. Ich laufe auf die Tür zu, meine Schritte machen merkwürdige Geräusche, ich blicke hinab, sehe, ich laufe auf Estrich, es gibt keinen Teppich mehr. Ich muss zur Küche kommen, bevor alles sich so sehr weitet, dass ich sie nicht mehr erreichen kann. Aus der Wohnzimmertür springe ich — über den Flur hinweg wie über einen Bach — direkt in die gegenüberliegende Küche hinein. Es bleibt keine Zeit, um Bad, Kinder- und Klavierzimmer zu besuchen, das muss ich hinnehmen. Dafür komme ich direkt zum Wichtigsten: den Gemälden. Ich habe sie auf die Küchenwand gemalt. Drei Stück nebeneinander. Sie sind noch da. Ich bin erleichtert. Auch sie wachsen nun, sind bald höher als ich groß bin. Ich sehe sie nur verschwommen, Ansammlungen von pastellfarbenen Farbflecken, die umso mehr hin- und herwabern, je länger ich hinschaue. Aber ich kenne sie, ich kenne sie gut, ich weiß, hier fängt alles an.

Begründung der Jury

In ihrem Romanprojekt Die Oma im Baum erzählt Laura Müller-Hennig von der knapp siebenjährigen Mona, die am Bremer Stadtrand in finanziell prekären Verhältnissen bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufwächst. In ihrer Erzählweise lehnt sich die Autorin dabei gekonnt an die Perspektive der Siebenjährigen an und entfaltet in Episoden verschiedene Erinnerungen an die Kindheit ihrer Protagonistin. Vor allem der Tod der Oma und das
Verschwinden ihrer besten Freundin Esra hinterlassen Spuren in Monas Träumen, auf Möbeln und in Räumen. Der Text ist dabei sehr souverän und stilistisch sicher erzählt, er entwickelt eine eigene Stimme und eine beeindruckend bildreiche, poetische Sprache, mit der die Autorin gekonnt kindliche Imaginationskraft mit blitzlichtartigen Erinnerungen verbindet. Selbst (oder gerade) die nüchterne Untersuchung im MRT oder eine Narkose werden aus der Perspektive der kleinen Mona zu einer Erinnerung des Wunderbaren, das sich ebenso in die Lebensrealität der Protagonistin einfügt wie die friedliche Erinnerung, dass sie ihre tote Oma gelassen im Trenchcoat im Baum sitzen sieht.

Zur Jury 2019 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), PD Dr. Karen Struve (Universität Kiel & Vorstand Bremer Literaturkontor), Alexandra Rempe (Geschäftsführerin Buchhandlung Storm), PD Dr. Ian Watson (freier Autor & Vorstand virt. Literaturhaus) und Helge Hommers (Journalist & Stipendiat 2018).

Bild von Laura Müller-Hennig
© Marc Stavros

Laura Müller-Hennig (*1985) hat im Bereich Theater und Film gearbeitet, Medienproduktion und Psychologie studiert und widmet sich seit mehreren Jahren verschiedenen Kunstprojekten – u.a. im Blaumeier-Atelier und in der Film-Kooperative „compagnons“.
Einige ihrer Texte hat sie in Kunstkatalogen, Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht sowie in der MiniLit-Reihe des Bremer Literaturkontors. Dort leitet sie seit 2018 eine regelmäßig stattfindende Schreibwerkstatt für junge Autor*innen (14 – 19 Jahre). Für eine ihrer Geschichten war sie 2016 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi nominiert. Zudem erhielt sie im Frühjahr 2019 das vom Literaturkontor vergebene Stipendium für die Bremer Prosawerkstatt bei Michael Wildenhain.

In FOLGE 4 unseres Podcasts ›Schreibgespräche‹ erzählt Laura Müller-Hennig von ihren Arbeitsweisen.