Ausschnitt von einem Arbeitstisch aus einer Schreibwerkstatt

Werkstatt-Texte

Lehrauftrag ›Kreatives Schreiben‹ (WiSe 2019/20: ›Zeit, Ort, Atmosphäre‹) - mit Angelika Sinn

In dem Seminar ›Kreatives Schreiben‹ haben sich die Studierenden im Wintersemester 2019 / 20 damit beschäftigt, wie wichtig Zeit, Ort und Atmosphäre für einen Text sind und wie es ihnen gelingen kann, diese Komponenten in ihre Geschichten einfließen zu lassen. Zwei Exkursionen standen auf dem Programm: zum Hauptbahnhof und in den Bürgerpark. Lesen Sie hier eine Auswahl der nach den „Begehungen“ entstandenen Texte.

Verspätung

Ich schlage mein Buch zu, gähne ausgiebig und schaue genervt zu der großen Anzeigetafel, die mir verkündet, dass mein Zug 40 Minuten Verspätung hat. Wenigstens habe ich hier meine Ruhe, da der Bahnsteig um diese Zeit beinahe leer ist. Gesellschaft leistet mir nur eine Krähe, die auf dem Boden nach Essbarem sucht. Ein kalter Windstoß lässt mich erschaudern, und ich stecke die Hände tief in die Taschen meines Mantels.
Ich höre das laute Rumpeln eines herannahenden Güterzuges. Wie schon so oft fange ich an, die Waggons zu zählen. Bis 13 komme ich, als der Zug mit einem lauten, in den Ohren schmerzenden Quietschen anhält.
Inzwischen verkündet mir die Anzeige hämisch, dass mein Zug wohl doch 50 Minuten Verspätung hat. Gedanklich lege ich schon mal weitere zehn Minuten drauf. Mein Blick wandert zurück zu dem Güterzug, und ich betrachte den ausgeblichenen Schriftzug auf einem der Container. „Wir fahren für Volkswagen“, daneben das alte Logo der Firma.
Auch die anderen Waggons sehen alt und verdreckt aus. Werden Güterzüge eigentlich gewaschen? Gibt es eine Waschanlage für Züge? Wenn ich daran denke, dass man bei einer Zugfahrt oftmals durch die schmutzigen Scheiben nicht nach draußen blicken kann, bezweifle ich das.
Ich starre den Güterzug an. Er starrt zurück. „Wir kommen hier wohl beide so schnell nicht weg, was?“ Grade als ich den Gedanken zu Ende gebracht habe, rollt er wieder an.
Meine Bahn fällt aus.

Am See

Mina starrte auf die blaugrauen Wellen. Der Wind fegte ihr um die Ohren, die Schaukel, auf der sie saß, bewegte sich leicht. Eigentlich war sie mit ihrer Freundin Sofie verabredet gewesen, aber sie hatten sich in der Schule gestritten. Da war Sofie alleine nach Hause gegangen, und Minas Füße hatten sie hierher an den See gebracht. Außer dem lauten Rauschen des Windes hörte sie kaum etwas, nur hin und wieder mal das Kreischen eines Vogels oder, weit entfernt, das Geräusch fahrender Autos. „Blöde Sofie, immer dasselbe mit ihr“, murmelte Mina, befreite ihre Füße aus dem Sand und stieß sich ab. Sie schaukelte immer höher und höher, und es begann ihr  Spaß zu machen. Plötzlich fühlte sie sich nur noch frei und leicht. Die Sonne bahnte sich einen Weg durch die Wolken, und die Welt schien wieder ein kleines bisschen besser zu sein.

Das Wiedersehen

Es war schon spät, als Vyven am Bahnhof ankam, um dort auf Robin zu warten. Der Bahnhof war nicht mehr als ein Holzdach und ein Steinfußboden neben zwei Gleisen mitten im Nirgendwo. Hinter den Gleisen wuchsen ein paar Bäume. Der Himmel war in oranges und rosa Licht gehüllt, das von den Wolken aufgenommen wurde, und der helle Boden funkelte im Schein der tief stehenden Sonne.
Um einen geeigneten Platz zum Warten zu finden, schaute Vyven sich um. Nur zwei Personen waren auf dem Bahnsteig zu sehen: ein Elf, der hin und wieder zur Uhr schaute, die von der Decke herabhing, und ein junger Wind Genasi, dessen helles Haar wehte, obwohl es windstill war. Auch Vyven schaute nun auf die Uhr. Robin sollte bald ankommen.
Plötzlich trommelte Regen auf das Dach, und hin und wieder hörte man einen Wassertropfen, der durch ein Leck drang, in eine sich schnell bildende Pfütze fallen. Das sanfte Plopp-Geräusch war nur zu hören, wenn man sich darauf konzentrierte.
Entspannt schloss Vyven die Augen, und ein friedliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Dem warmen Sommerregen hörte er gerne zu, und der Geruch von warmer, nasser Erde ließ sein Lächeln noch breiter werden. Er wurde an die Zeit erinnert, die er mit Robin auf der Waldlichtung verbracht hatte. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, und der Ort wurde zu einem Treffpunkt, den er so schnell nicht vergessen würde. Doch ohne Robin war es dort traurig und leer. Zum Glück musste er jetzt nicht mehr lange auf ihn warten.
Nach einer Weile wurde er vom Pfeifen des Zuges aus seinen Gedanken gerissen. Schnell trat er ein paar Schritte zurück, damit Robin ihn gleich entdecken konnte, und schaute dem Zug, der in den Bahnhof einfuhr, entgegen. Als der Zug zum Stehen gekommen war und die Türen endlich aufgingen, lehnte Vyven sich etwas vor, aufgeregt, Robin endlich wieder in seine Arme schließen zu können. Glücklicherweise musste er nicht lange warten, da kam der dunkelhäutige junge Mann schon auf ihn zugerannt. Vor Freude fing Vyven an zu strahlen. Er schloss die Arme um den Körper seines Geliebten. Der bekannte Geruch von Zitrone und getrockneten Kräutern stieg ihm in die Nase, und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Endlich fühle er sich wieder komplett.

Verlaufen

Sie rutschte aus und fiel hin. Matsch sickerte durch den Stoff ihres Rockes und klebte kalt an ihren Beinen. War ihre Strumpfhose zuvor schon von etlichen Laufmaschen durchzogen gewesen, hatte sie sich nun endgültig ein Loch in den feinen Nylonstoff gerissen. Ein Spaziergang bei Regen, in Rock und Bluse und abseits des angelegten Weges, war keine gute Idee gewesen. So weit in die kleine Wildnis des Parks hineinzulaufen, dass man die Orientierung verlor und nun bei Starkregen den Weg zurück finden musste, eine geradezu miserable.
Fluchend erhob Caro sich von dem durchweichten Boden, sehr darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten. Der Geruch vermodernder Blätter stieg ihr in die Nase.
Durch ihre nassen Haare hindurch versuchte sie, die Umgebung zu erkennen. Der plötzliche Wolkenbruch hatte sie an dem sonst so schönen Herbsttag überrascht. Sie fror, ihre Kleidung war komplett durchnässt, und weit und breit war niemand zu sehen, den sie nach dem Weg hätte fragen können. Sie versuchte nicht in Panik zu verfallen. Dies war nur ein kleines Stück Wald, angelegt in einem Park, der Regen würde aufhören und sie würde einen Weg zurück finden. Es war weder Nacht, noch war sie die Hauptdarstellerin eines Horrorfilms, in dem sich eine junge, alleinstehende, naive Frau alleine auf den Weg in einen Wald macht, nur um von den Naturgewalten überrascht zu werden und sich zu verlaufen… wobei sie ja eigentlich genau diesem Bild entsprach! Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie sollte besser aufhören, Bücher mit Titeln wie „Murder Park“ zu lesen!
Auf wackeligen Beinen hatte sie sich wieder aufgerichtet. Sie hielt sich am Ast des nächsten Baumes wie an einem Rettungsanker fest, strich sich die nassen Haare aus den Augen und hinterließ dabei eine dunkle Spur aus Matsch auf ihrer Stirn. Dann sah sie sich um, konnte aber höchstens zehn Meter weit sehen, so sehr schränkte der Sturzbach, der vom Himmel auf sie herabprasselte, ihre Sicht ein. Der Trampelpfad, dem sie auf eine kleine Anhöhe gefolgt war, entpuppte sich als Hindernislauf. Die kahlen Bäume ragten spitz in ihren Weg, graue, teilweise mit Moos bedeckte Zweige lagen auf dem Boden, Wurzeln brachen aus der Erde hervor und bildeten tückische Stolperfallen.
Alleine bei dem Gedanken, ihre relativ sichere Position verlassen zu müssen, nahm ihr Herzschlag zu. Der Ast gab ihr Halt. Die nackte Baumkrone über ihr bot zumindest ein wenig Schutz vor dem Regen. Doch es gab keine Alternative. Sie würde weitergehen müssen, um aus dem Wald herauszufinden, über Wurzeln, spitze Äste und rutschigen Matsch.